Das virtuelle WG-Castinggespräch dauert länger als gedacht, was eigentlich ein gutes Zeichen ist, aber so bleibt uns nicht mehr viel Zeit bis zum Theater. Also Arbeitsteilung: Du das Gemüse, du die Nudeln und ich kaufe schon mal das Ticket für den Stream und suche in der Kammer nach der passenden Alkoholbegleitung: Die Politiker von Wolfram Lotz live aus dem Thalia Theater in Hamburg. Karten gibt es bis 10 Minuten nach Vorstellungsbeginn. Schön das die Zuspätkommer auch im Internet mitbedacht werden, aber wir sind pünktlich, gerade so. Eine Minute nachdem ein erst unsichtbarer Chor den Text zu flüstern beginnt, steht der dampfende Topf auf dem Tisch, aber so das er nicht die Sicht auf den Bildschirm versperrt. Mein Laptop schnarrt mittlerweile, wenn man ihn so laut aufdreht und der Wein ist auch nur kalt, weil wir noch Eiswürfel haben, aber dafür ist die Kamera gut und der Text noch besser und dann schauen wir doch alle zusammen das ganze Stück am Küchentisch und ich verpasse den anderen zu sagen, wie glücklich ich bin, hier so sitzen zu können.
Jahr: 2021
13.05.2021
Regenfeiertag – Spaziergang durchs Moabiter Unterholz auf der Suche nach Kunst.
12.05.2021
Zum ersten Mal stehe ich vor Aldi in der Schlange, morgen ist also Feiertag, – gut zu wissen – und obwohl es zuzieht, ist immer noch kein Gewitter in Sicht.
Nach dem Abendessen baue ich mir im Wohnzimmer ein kleines Tanzstudio auf. Ich rolle den Teppich zusammen, lege eine Yogamatte zwischen mich und die Splitter in den Dielen und zünde eine Kerze an. Wenn sich die Treppe zum Obergeschoss schon nicht schließen lässt wie die Tür zum Flur, dann will ich wenigstens einen Lichtkokon, um mich darin verletzlich zu machen.
Zum Auflockern suche ich mir ein Video aus. Der Trainer stellt sich mit seinen Pronomen vor und beschreibt dann, wie er aussieht, was er trägt und wie er steht. Unerwartete Inklusivität hat oft etwas Komisches. Weil er bei seinen Sequenzen auch immer Rollstühle mitdenkt, sind seine Beschreibungen sehr vage und lassen viel Raum für Improvisation und Variationen, seine eigenen Bewegungen hingegen sind präzise und irritierend bestimmt, weswegen ich ab der zweiten Hälfte den Blick auf den Bildschirm vermeide.
11.05.2021
Der Trend setzt sich fort und auch das gute Wetter, was ein bisschen Schade ist, denn ich hatte mich auf das Gewitter gefreut.
Nach dem Laufen sitze ich nur im Schaukelstuhl und wippe langsam vor mich hin. Mehr nicht. Natürlich könnte ich kramen und Sachen hervorholen, mir selber eine kleine Pyramide auf der Brust aufschichten, und ich probiere es kurz aus, bin neugierig, ob es geht, aber ich kann es auch sein lassen und nur Schaukeln. Zumindest ein paar Minuten, aber das ist ja auch schon etwas.
10.05.2021
Ich stelle mir einen frühen Wecker, um vor der Arbeit noch die Dinge aufzuschreiben, von denen ich nicht bemerkt hatte, dass ich sie genau so dringend schriftlich brauche. Die freundliche amtliche Bestätigung kommt schon eine Stunde später, ich sehe sie aber erst am Mittag und ab dann habe ich den Rest des Tages frei vom gebückten Gang und den aufgebissenen Wangen und den nervösen Augen und es gibt Kuchen, Sekt, Basketball und Burger und natürlich weiß ich, dass solche Dinge an Geburtstagen nicht so ungewöhnlich sind, aber auch mit Beweisbildern hätte ich dieses Jahr eigentlich nicht daran geglaubt, einfach nur so auf dem Balkon zu liegen.
09.05.2021
Keine Ahnung, ob ich feige und schwach oder mutig und stark war und bin. Wahrscheinlich wie immer beides und weder noch je nach Blickwinkel, und was zählt schon der eigene, aber trotzdem treibt es mich um.
Ich sitze neben meinem Fahrrad an einem Bach, ungefähr 30 Kilometer nördlich von Moabit unter einer alten Eiche, die ich erst um Erlaubnis fragen musste, bevor ich mich unter sie setzen durfte, aber das fällt mir erst im Nachhinein auf. Ich wollte eh nie zum Stein auf der anderen Seite des Feldwegs, sondern immer an den Stamm. Der Stein war nur der Wartebereich, um anzukommen, aber auch am Stamm komme ich nie ganz an, packe mein Schreibzeug nie aus und fahre dann doch wieder zurück.
08.05.2021
Rücksprache mit dem Team. (Ich kann mich auf meine Mitarbeiter:innen voll und ganz verlassen.)
Meine Agentin und die Rechtsabteilung raten mir mit der Antwort nichts zu überstürzen, damit es nicht zu unbedachten Aussagen oder Missverständnissen kommt. Nur vor Ende der nächsten Woche, am besten mit ein paar Tagen Puffer, wäre mit Blick auf den Urlaubskalender optimal. Meine Therapeutin sieht das ähnlich, nur rät sie mir auch dafür ein paar Tage frei zunehmen, was ja mal was ganz Neues ist.
Der Social Media Manager, meine Lektorin und der Bäcker, bei dem ich mir an langen Sitzungstagen meinen Spaziergang am Nachmittag mit einer Nussecke versüße, sind sich einig: Ich sollte so schnell wie möglich antworten und die Hoheit über die Angelegenheit zurückgewinnen, damit die jetzt schon auftauchenden Verschwörungstheorien nicht noch mehr befeuert werden. Sie geben zu, das Zögern und feilen am Text und den Bedeutungen sei zwar ehrenswert und handle ganz nach der ausgerufenen Maxime, aber dies sei nun mal eine besondere Situation, bei der kleine Formfehler riskiert werden müssen. Man sei sich auch sicher, dass die in dem Aufruhr um das Thema kaum auffallen und im Kontext des Ganzen auch vergeben werden würden.
Mein Büromitarbeiter und der Praktikant raten mir dazu, solange zu warten, bis es halt wieder passt und erst dann der Anfrage nachzukommen (die sind offensichtlich selber urlaubsreif, aber die Stelle ist eh schon neu ausgeschrieben), da gäbe es ja auch niemanden, der widersprechen würde, dass das richtig und verantwortungsvoll ist.
Also gebe ich den Auftrag, das Thema zeitnah in meinem Terminkalender zu platzieren, aber unter einem Decknamen als Überraschung.