Monat: September 2022

30.09.2022

Unsere Bühne ist ein mit einem Bettlaken abgehangenes Laufband. Der Preis ist aus der Geschenktüte eines Ladens für Periodenunterwäsche. Die Texte stammen aus dem Archiv oder sind zwei Minuten vor Beginn fertig geworden. Einer wird selber vorgelesen, der zweite anonym aus einem Hut gezogen. Es gibt genug Knabberzeug, um die Ritzen des Sofas zu füllen und um Mitternacht Geburtstagssekt. In der Raucherpause läuft deutscher Hip-Hop der Jahrtausendwende. Wir nennen es VorLeseZirkel.

29.09.2022

Ich wühle in alten Texten von mir, weil ich zum Vorlesen einen mit besonders hohem Cringefaktor suche. Anfang der 2010er habe ich mal einen Ordner mit alten Word Dokumente in Google Drive gezogen. Sicherheitshalber. Da liegen sie nun und die meisten von ihnen sind bedrückend, voller Sinnsuchemetaphern und Pathos, den ich im Gegensatz zu meinen handschriftlichen Notizen aus der Zeit nicht zu entziffern brauche und sogar nach Stichwörtern durchsuchen kann. Google kann das auch. Seitdem ich letztens bei einem Geburtstag auf einer neuen Couch saß, bekomme ich auf Instagram jeden Tag Werbung für diese Couch angezeigt. Dabei hatte ich gar nicht nach ihr gesucht, sondern andere Personen, die auch im Raum waren, die aber in meinem Adressbuch stehen. Das reicht schon, um mich zuzuordnen. Jetzt bin ich gespannt, wie diese Dokumente meine Werbeanzeigen verändern. Was bekommt man heute als latent depressiver Teenager empfohlen? Vielleicht etwas für mein Fitness-Business oder Infomaterial von der identitären Bewegung. Irgendwas mit Streichern im Hintergrund.

28.09.2022

Mit der Klimakrise wird auch mein wackeliges Vertrauen in eine mir liebevoll zugewandte Welt angegriffen. Das romantisch überfrachtete Ideal des Gartens Eden steckt tiefer in mir, als ich es mir eingestehe, denn trotz aller Wüsten, Gifte und Vulkane denke ich an die Erde als einen mir stets wohlwollenden Nährboden, dessen Wunder es zu entdecken und zu bewahren gilt. Was theoretisch schon lange eingerissen war, bröckelt praktisch. Wer eh schon depressiv ist, verkraftet das besser. Nach Jahrhunderten der internalisierten Ausbeutung erlebe ich einen anderen Planeten, der nicht mit dem in mir zusammen passt, einem, dem das Leben abgerungen und gegen das es verteidigt werden muss. Was vorher nur Trauer um den Verlust des inneren Bildes war, wird im entstandenen Loch zur Angst vor der Rache der Außenwelt.

27.09.2022

Nach dem Einkaufen weist mich das Ende des Regenbogens zurück an den Ort, an dem sich das WLAN automatisch verbindet und sich meine Einkaufsliste zufrieden mit den anderen synchronisiert. Da, wo die alten Dielen Löcher in die Socken zwicken und die Mikrowelle gefährliche Geräusche von sich gibt.

Zu Hause begrüßt mich laute Putzmusik. Der Inhalt des Kühlschranks ausgebreitet auf dem Balkontisch und glitzert in der Sonne. Mein Topf voll Gold ist also eine Sammlung angebrochener Soßen und Aufstriche und eine Kiste mit Gemüse. Das stimmt ja auch irgendwie.

Als ich meine Einkäufe dazustelle, verdunkelt eine Wolke wieder den Himmel und aus dem Schatz vor mir wird ein Hort. Ein bisschen enttäuschend, dass alles auf den Tisch passt, denke ich. Im Kühlschrank sieht das sonst nach mehr aus.

26.09.2022

Es ist ein Bildschirmnackentag, was bedeutet, dass heute das oberste Ziel ist, den Spalt zwischen Augenbrauen und Gerät zu schließen. Eigentlich eine typische Schutzbrillensitzhaltung, nur dass keine Funken fliegen, sondern mittelmäßig interessante und eher schlecht definierte Aufgaben ohne Belohnung. In Kombination mit einem Fenstertunnelblick für den konzentrierten Fokus an den eigentlich relevanten Tabs im Browser vorbei und mit einem gut trainierten Scrollfinger ist so ein Tag äußerst effektiv in der Produktion von hartnäckigen Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich. Und weil es so kurz vor dem Mittagessen ja dann eh nicht mehr lohnt anzufangen, schaue ich mir noch eine halbe Stunde Videos mit Rückenübungen an. Für später.

25.09.2022

Am Nachmittag Bäume bestimmen im Park.
Am Abend im Tanzstudio selber den Ästen und Verzweigungen nachspüren.

So noch ganz in Holz und Borke gekleidet, wiegt sich mein Wipfel im Wind aber der Stamm steht fest. Wurzelklammernd steif, auf Nüsse bedacht.
Kein Core-Workout notwendig.

24.09.2022

Vorzugssonntag, der

Ein Samstag in der Gestalt eines entspannten Sonntags, welcher kurz vor Ladenschluss doch noch hektisch wird, um auf den eigentlichen Sonntag vorbereitet zu sein.

Das Besondere am Vorzugssonntag ist, dass er in seiner Ausnahmehaltung über die meiste Zeit des Tages dem Ideal eines freien Sonntags näher kommt, als es der mit Erwartungen belastete tatsächliche Sonntag jemals könnte. „Komm, wir gehen nochmal ins Bett.“, sagt sich einfacher, wenn am nächsten Tag auch noch Zeit ist, um spazieren zu gehen. Außerdem hat ALDI am Vorzugssonntag geöffnet. Schon das macht ihn zum besseren Sonntag.