Monat: Oktober 2022

24.10.2022

Auf dieser Folie sehen sie eine Visualisierung der letzten Jahre, wann und zu welchem Preis die Zugtickets für den Heimatbesuch an Weihnachten gekauft wurden. Für die letzten zehn Jahre konnten wir zudem auswerten, wann das Thema zum ersten Mal in Nachrichten erwähnt wurde, wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass die Frage schon an vorherigen Tagen in Telefongesprächen aufgekommen ist. Aber der Trend wird sofort ersichtlich. In den letzten Jahren sehen wir nicht nur einen Anstieg der Ticketpreise, obwohl die Tickets in der Tendenz immer früher gebucht werden, sondern auch, dass das Thema mitunter bereits im Spätsommer aufkommt. Der Befund ist eindeutig. Etwa Mitte der 2030er-Jahre werden nach unseren Berechnungen die Tickets bereits vor Neujahr gekauft werden und ungefähr so viel kosten wie ein Flug nach New York heute. Die Absprachen dafür fallen dann praktischerweise mit den Feiertagen zusammen.

23.10.2022

Seitdem ich einen Podcast über paranormale Begegnungen gehört habe, verstehe ich die Faszination an True Crime besser. Wenn ich nachts durch den Park laufe, habe ich jetzt keine Angst vor Männern, die aus dem Gebüsch springen, aber vor rastlosen Seelen, die Besitz von mir ergreifen, weil sie noch unvollendete Aufgaben in dieser Welt haben oder von den dämonischen Kräften angezogen werden, die an meinen Ohrringen aus dem Antiquitätengeschäft haften.

22.10.2022

Als der Bus am großen Stern vorbeikommt, sind es noch fast zwei Stunden bis zum Start der Demo, aber trotzdem haben sich bereits mehrere tausend Menschen versammelt. In den umliegenden Straßen stehen Reisebusse aus ganz Deutschland, iranische Flaggen werden geschwenkt und junge Frauen bemalen sich ihre Gesichter. Bei der nächsten Haltestelle steigt der halbe Bus aus, aber ich muss weiter. Keine Ahnung, warum ich so sehr weinen muss. Zu viel Schmerz und Hoffnung in der Luft.

21.10.2022

Früher hätte ich ja nie das Hemd in die Hose gesteckt, weil es sich so unauthentisch angefühlt hätte und auch heute fühlt es sich noch nach Verkleidung an, aber das Gefühl, warum und für wen ich es tue, ist mir heute echt genug und wenn das Outfit in sich stimmig ist, dann stimmt doch schon mal etwas und der Rest reiht sich im Takt der Sektkorken am Buffet ein.

20.10.2022

„Vor dem Tanzen erzähle ich dir alles, was heute genervt hat, dann schüttele ich das ab und danach erzähle ich dir von den tollen Dingen, die heute passiert sind. Der Raum hält das aus. Mit so viel Schweiß gemischt schmeckt man das gar nicht raus. Quasi Wodka-O. Und so viel ist es auch gar nicht. Auf dem Rückweg hoffe ich dann auf viele rote Ampeln, oder wir fahren extra langsam, sonst reichen die fünf Kilometer gar nicht. Andererseits habe ich dann bestimmt auch großen Hunger. Ich sage dir noch mal Bescheid. Alles Breaking News, aber nichts brennt, verstehst du? Nur für die Aufregung und das Laufband am unteren Bildschirmrand.“

19.10.2022

„Beauty is the convenient and traditional name of something which art and nature share, and which gives a fairly clear sense to the idea of quality of experience and change of consciousness. I am looking out of my window in an anxious and resentful state of mind, oblivious of my surroundings, brooding perhaps on some damage done to my prestige. Then suddenly I observe a hovering kestrel [Turmfalke]. In a moment everything is altered. The brooding self with its hurt vanity has disappeared. There is nothing now but kestrel. And when I return to thinking of the other matter it seems less important. And of course this is something which we may also do deliberately: give attention to nature in order to clear our minds of selfish care.“

Meine Mental Health App hätte gerne, dass ich den Tag mit Affirmationen beginne. Die beginnen alle mit „Ich“, aber dann ist es schon Zeit für ein BeReal und die ganze selbstlose Aufmerksamkeit, von der Iris Murdoch spricht, muss irgendwie mit in das Selfie gepackt werden.

18.10.2022

Während der Performance läuft der Künstler eine Acht oder ein Unendlichkeitssymbol auf einem zwei Meter langen und einem Meter breiten Schaffell. Dabei erzählt er von all den Dingen, die ihn belasten und die er verheimlicht, obwohl im eigentlich so viel Ausdrucksmittel zur Verfügung ständen. Er erzählt, worüber er mit Freunden nicht redet, worüber er im Blog nicht schreibt, wovon er nicht mal in seiner Therapiegruppe erzählt. Davon, dass er überlegt ein Projekttreffen abzusagen, weil es in einer Kneipe stattfindet, dass er sich im Discounter nicht mehr kauft, was schön wäre auf Vorrat zu haben, sondern nur noch was nötig ist und dass er seine Eltern fragen muss, ob sie ihm das Zugticket für den Besuch an Weihnachten bezahlen. Er erzählt davon, dass er sich schämt, dass er glaubt, sich nichts anmerken lassen zu dürfen, damit die Sache nicht noch größer wird, als sie ihm eh schon zu mächtig ist, dass er sich nicht mal selber erlaubt, von der Situation erschlagen zu sein, weil er ja selber Schuld ist und dass er das Fell, seine Kleidung und alle Dokumente, die darauf hinweisen, dass diese Performance heute stattfand, nach ihrem Ende vernichten wird. Es ist sehr beeindruckend. Alle applaudieren und machen Fotos. Dann gibt es Sekt.