Das Geburtstagskind hat sich gewünscht, dass wir zu einer 90er-Party gehen. Wer will da widersprechen. Am Eingang gibt es Knicklichter und „Original Süßigkeiten der 90er“, aber dafür ist das MAOAM noch erstaunlich einfach zu kauen. Der DJ ist ebenfalls ein Original, denn er war mal Moderator auf VIVA und ist hier für die gute Laune zuständig. Bei dieser Musik geht es nicht um gute Übergänge, sondern um Textsicherheit und das Kreischen bei den ersten Takten. Erst wundere ich mich, warum es auf der Tanzfläche so hell ist, aber dann verstehe ich: Nach dem Kreischen ist vor dem nächsten Foto.
Jahr: 2022
07.10.2022
Ich habe Tickets für eine Biodiversitätsshow gewonnen, was nichts anders ist als ein moderner Diavortrag mit hochauflösenden Videos und elektronischer Livemusik, aber es scheint zu funktionieren, denn die Frau aus der Senatsverwaltung sagt, dass sie selten so ein junges Publikum in diesem Saal gesehen hat. Das heißt, durchschnittlich unter 40 – fehlen also nur noch die 47 Millionen Deutschen, die älter sind.
Die Show ist so aufgebaut, dass sich beeindruckende Bilder und Fakten mit Schreckensmeldungen und Musikpassagen abwechseln. „Jetzt genießen wir zum nächsten Stück aber erst mal die wunderbare Welt der Vögel“, sagt sich so einfach, aber wenn ich in Gedanken noch bei Versiegelung, Ackergiften und dem Insektensterben bin, sehe ich in der Schönheit nur den Verlust. Das ist die wichtigste Lektion und die gibt es gleich am Anfang: Biodiversität ungleich Artenvielfalt, aber mit beidem sieht es sehr schlecht aus. Im Laufe des Abends knibbel ich mir die Haut neben den Fingernägeln blutig, als würde das irgendetwas daran ändern.
06.10.2022
Der letzte Schliff:
„Alle Antworten ohne Gewähr. Die hier enthaltenen Aussagen sind nicht als Angebot oder Empfehlung bestimmter Anlageprodukte zu verstehen und stellen keine Rechtsberatung dar. Es wird weder ein Versprechen abgegeben, dass Heilung oder sonstiger Erfolg stattfinden wird, noch sind bei der Produktion Tiere zu Schaden gekommen.“
05.10.2022
Die Wände des Yogastudios in dem wir für die Gruppentherapie im Kreis sitzen erinnert mich an die Buttercreme der Mandeltorte, die ich am Wochenende gebacken haben und die wiederum an die Kuchentafeln, an denen ich als Kind gesessen und den Erwachsenen zugehört habe. Jetzt bin ich nicht nur selber erwachsen, sondern backe auch selber die Kuchen und trotzdem zögere ich etwas zu sagen, bevor ich nicht halbwegs sicher bin, dass ich den Gesprächsfluss nicht störe, sondern etwas schlaues, unterhaltsames oder nachdenkliches, auf jeden Fall unbedingt etwas bis zum Satzende gedachtes beizutragen habe. Die anderen sagen, dass das nicht notwendig sei und ich stimme ihnen zu. Während ich hier täglich versuche Dinge zusammenzuschnüren, übe ich im Torteninneren jede Woche Dinge aufzumachen und so sein zu lassen. Als ich nach Hause komme, ist die neue Zwischenmieterin da. Sie kommt aus der Nähe von Frankfurt. Frankfurter Kranz, na klar.
04.10.2022
Ich bin einer Schnoddermaschine. Von so einer Effizienz träumt man in der Industrie. Aus meiner Nase läuft mehr Schleim pro Minute, als Gas aus dem Loch in den Nord Stream Pipelines kommt. Einsatzteams der Stadtreinigung stehen mit Lastwagen in unsere Straße Schlange. Das Technische Hilfswerk ist mit Pumpen aus mehreren Bundesländern im Einsatz. Aus der Politik gibt es den ersten Vorschlag, meine laufende Nase einzusetzen, um damit stillgelegte Braunkohlegruben zu füllen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fragt, ob meine Schleimproduktion einen Einfluss auf den Krieg in der Ukraine haben wird, aber ich bin dagegen, eine Erkältung so zu dramatisieren.
03.10.2022
Geburtstag. Nicht meiner. Das macht es umso entspannter. Leckeres Essen und gute Laune, ohne dabei ständig ans Telefon gehen zu müssen. Am Nachmittag gehen wir in zwei Ausstellungen. Die eine klingt gut, die Objekte sind aber fast alle langweilige Diskursstellvertreter, an die zweite habe ich keine Erwartungen und möchte positiv überrascht alles anfassen. Weil alles hinter Glas ist, begrapsche ich meinen Schal und dann die deutsche Einheit.
02.10.2022
Ich errichte eine Torte. Stahlbeton hat eine sehr schlechte Umweltbilanz, habe ich von den Architects for Future gelernt, also nehme ich für mein Gerüst steif geschlagenes Eiweiß mit gemahlenen Mandeln und ziehe eine Buttercremeschicht ein, damit sofort klar wird, dass es hier um Eigentum, nicht um Miete geht. Um Geld zu sparen, kommt die dann auch aufs Dach und an die Fassade, so muss ich nur einmal den Mixer abwaschen. In der Broschüre heißt das dann nachhaltig und ressourcenschonend. Das gilt auch für die Deko. Geröstete Mandelblättchen sind zur Dämmung eigentlich nicht geeignet, aber lenken sehr gut von ungleichmäßig verputzen Wänden ab. Bei einer 24 cm Springform ergibt das am Ende umgerechnet einen Quadratmeterpreis von 575 Euro. Bei der Version aus dem Tiefkühlfach wären es nur 110 Euro, aber Eier aus der Region und der Name des Architekten haben eben ihren Preis.