Jahr: 2021

04.07.2021

Zurück in Brandenburg, Landstraßenkilometer erschleichen.

Schon nachdem ich Spandau verlassen habe, muss ich mir eingestehen, dass ich heute besser ganz frei gemacht hätte, bin dann aber zu stolz und enttäuscht von mir um umzudrehen. Normalerweise tut mir das ja gut und gestern hatte ich auch allen erzählt, dass ich heute, aber egal, einfach weiterfahren. Unentschlossen und überfordert am Bahnhof stehen kann ich auf dem Rückweg auch noch. Noch so eine schlechte Entscheidung aus falscher Konsequenz.

An einem Waldweg sitzt eine Prostituierte auf einem Klappstuhl, grinst mich an und wackelt mit ihren Flip Flops, als ich vorbeifahre. An der nächsten Abzweigung steht eine mindestens dreimal so alte Frau neben einem Anhänger, von dem sie Erdbeeren, Kirschen und Wachteleier aus Freilandhaltung verkauft.

Rennradfahrer überholen mich und schauen verbissen. Auf meinem alten Fahrrad konnte ich besser freihändig fahren. Mein Hemd ist weit genug, dass der Schweiß ungestört von der Achsel bis zum Ellenbogen rinnt. Motorradmänner knattern an mir vorbei und ihre buschigen Schnauzbärte flattern im Wind. Das Hörspiel kommt nicht gegen die Motoren an. Sowieso ist die Route zu laut. Ich will mich am Sonntag nicht abkapseln müssen und eigentlich heute nur das.

Um das Wildniskerngebiet, einem alten Truppenübungsgelände, wurden drei Zäune gezogen, als wäre irgendwo zwischen den alten Bunkern ein Labor versteckt, in dem Dinosaurier geklont werden. Die Schilder warnen vor alter Munition, einstürzenden Gebäuden und großen Wildtieren. Betreten strengstens verboten. Die Wölfe sind vielleicht nur eine Tarnung. Wie die Wut. Wenn ich tief genug in den Bauch atme, tritt die kurz zur Seite und macht der Trauer Platz.

03.07.2021

Zum zweiten Frühstück gibt es ein Lächeln ohne Angst, ein riesiges Stück Tiramisu und einen Latte Macchiato auf dem Winterfeldtmarkt. Dass ich ja eigentlich lieber Milchkaffee als Cappuccino trinke, ist mir erst sehr spät aufgefallen, es ist mir sogar gar nicht selber aufgefallen, es wurde mir aufgefallen: „Du ärgerst dich immer darüber, das so wenig Milch und Schaum im Kaffee ist, das er so stark nach Kaffee schmeckt und trotzdem bestellst du immer einen Cappuccino.“

Aber Cappuccino ist eben ein schönes Wort und klingt nicht so verweichlicht wie Latte Macchiato, mehr nach Genuss und Kaffeekultur, aber der Kampf gegen die toxische Männlichkeit beginnt manchmal eben im Kleinen mit einer Weißweinschorle und dem Milchkaffee. Ich meine, dass alles vielleicht sogar schon mal aufgeschrieben zu haben, aber solange die Freude über die Erkenntnis hält, darf die Geschichte auch ein Mantra sein.

02.07.2021

Schaukelmöbelsehnsucht und alles, was dazugehört.

01.07.2021

Sie, heulend: „Du sagst die ganze Zeit so weise Sachen.“
Er, scherzend: „Tja, es hat sich noch viel mehr verändert, du solltest mal mein Sixpack sehen.“
Sie, schweigend: „…“
Er, nuschelnd: „Vielleicht hat sich doch nicht so viel verändert.“
Sie, seufzend: „Ne, eigentlich nicht.“

30.06.2021

Ein Räkeln, das aus der Anspannung der vergangenen Tage eine Tanzbewegung macht. Sprünge mit dem Gesicht in die nassen Blätter, wo ich mich sonst unter den Ästen hinwegducke. Der Jogger, der seine Nase in die Blumen steckt, weil er glaubt, unbeobachtet zu sein. Regenstiefelkinder, die durch die Pfützen rennen, über die ich gerade noch so hüpfen kann. Blur, Danger Dan, Wir sind Helden, Ton Steine Scherben – hört ja niemand, was ich höre, wenn ich mich auf dem Rückweg von der Therapie zum Weinen bringen will, um wirklich Feierabend zu machen.

29.06.2021

Ganz klein zusammenrollen, unter einer großen, schwere Decke, mit zusammengekniffenen Augen und angehaltener Luft; riesengroß machen, alles von mir gestreckt, laut tobend, springend, platzend; aber beides gleichzeitig, ohne dazwischen und zu erschöpft, um aus der lauernden Anspannung irgendwas zu machen.

28.06.2021

Igor Levit spielt The People United Will Never Be Defeated! – 36 Variations on ¡El pueblo unido jamas sera vencido! und Mascha Kaléko schreibt:
„Ich denke nicht; es denkt in mir
So wie es blüht und schneit
Ich schwebe zwischen Raum und Zeit
Es lebt in mir die Ewigkeit“
und Anne hat 10 von 15 Seiten geschrieben
und ich habe die letzten Kapitel von Sphären (Iain Banks) gelesen
und die neueste Folge Rick and Morty gesehen
und Suppe gekocht
und Fladenbrot gebacken
und alles erledigt, was auf meiner Liste stand
und meine Antworten mit Smileys geschmückt
und gehofft, dass es nur ein Sonnenstich ist, der da meine Brust in den Kiefer zusammenfaltet.