Es ist sehr unangenehm, bei einer Schweigeminute zwischen zwanzigtausend hunderttausend Menschen derjenige zu sein, der nichts mitbekommen hat und munter weiter eine Kneipengeschichte zum Besten gibt, bis er von den Umstehenden zischend zurechtgewiesen wird. Noch unangenehmer ist es aber, direkt daneben zu stehen. Für den Angezischten ist die Scham eine Überraschung, ich sehe sie langsam anrollen wie eine Welle, die immer größer wird.
Jahr: 2022
27.02.2022
26.02.2022
Als ich an der Stadtgrenze auf zottelige Rinder stoße, bin ich weit genug gefahren, um mich wieder auf den Heimweg zu machen. Hinter den Weiden und Sträuchern ragen der Fernsehturm und Plattenbauten in den Horizont und auf den Pfaden dazwischen schieben viel zu junge Eltern ihre Kinderwagen spazieren. Auf dem Rückweg erinnern mich Sticker in Heckscheiben an Bands, deren Existenz ich ganz vergessen hatte, aber die Cover auf Spotify sind mir sehr vertraut. Mit zunehmender Cappuccinodichte in Richtung Stadtmitte erinnere ich mich aber auch wieder, warum ich diese Musik vergessen hatte.
25.02.2022
Ich wach um vier Uhr auf, weil ich eine Stimme höre, die mir einen Satz zuflüstert, aber da ist nur das schreiende Kleinkind aus der Nachbarwohnung, und meine beiden Mitbewohnerinnen, die sich im Wohnzimmer unterhalten. Die eine ist gerade aus einer Bar gekommen, die andere sitzt noch an einer Abgabe und mein Herz pocht.
24.02.2022
Ich wache auf und es ist Krieg in Europa, zwei Länder weiter, was klingt, als würde ich mit dem Elektriker telefonieren: „Nein, die Tür am Tor, links daneben und da dann auf der rechten Seite ist die Klingel für das Quergebäude.“ Nächste Woche kommt er mit dem Ersatzteil wieder.
Mittags bin ich beim Vorgespräch für eine Gruppentherapie. Die würde mindestens zwei Jahre dauern, die Hausverwaltung kann eben nicht alle Probleme lösen, was aber vielleicht auch ganz gut ist, denn gleichzeitig fühlt sie sich auch ein bisschen nach Russland an: mächtig lauernd und Besänftigung funktioniert nicht, aber solche Vergleiche altern schlecht.
23.02.2022
Fahrradketten wechseln, Masken vergessen, Sorgen machen und spazieren gehen kann ich alles, aber immer mit dem leisen, bohrenden Zweifel, vielleicht eine Kleinigkeit völlig falsch zu machen, die allen anderen offensichtlich ist und die jeden Moment auffliegen könnte. So vergisst man doch nicht seine Maske! Gehst du schon immer so spazieren? Heftig.
22.02.2022
Auf dem Rückweg vom Tanzen sickerte der Regen und die Musik durch mich hindurch. Erschöpftes trampeln unter Wasser. Und auch die Kette, die auf dem Hinweg noch alle paar hundert Meter herausgesprungen war, hing hungrig und schwer. Die neue liegt ja schon bereit; sobald die Sonne scheint; keine Sorge; tat sie heute ja auch, sprach ich ihr gut zu und sie ratterte jaja.
21.02.2022
Rassismusgeständnis aus der Ausstellung über die indigene Filmemacherin Alanis Obomsawin: Ich hatte mehr Ethnomystizismus und weniger Aktivismus erwartet. Jetzt ist es raus. Die politischen Kämpfe passten nicht zu meinen Idealen von Ursprünglichkeitsromantik. Die bemerkte ich schon ein paar Tage vorher mal wieder, weil mir eine Liste mit Fragen untergekommen war, die abfragt, wie gut man den Ort kennt, an dem man lebt. Dass ich bei Ort erst an die Stadt, also die Verwaltungsgeografie dachte, ist genau worauf der Fragebogen von 1981 aufmerksam machen wollte: Weißt du welchen Weg dein Trinkwasser nimmt? Welch essbaren Pflanzen hier wachsen? Welche Blumen als erstes im Frühling blühen? Aus welcher Richtung die meisten Stürme aufziehen? Und so weiter. Wenn ich nur das wüsste, dann wäre ich auch wieder näher an der Welt und nicht so entfremdet vom großen Ganzen, so die Erzählung. Und es ist natürlich nicht ganz falsch, aber fehlen die Barrikaden, die Gerichtsverhandlungen und die Müllabfuhr.