11.02.2021

Singen wie Jean Paul schreibt. Laut und im schönsten Sinne abschweifend.

„In der Kindheit der Völker war das Reden Singen; dies werde für die Kindheit der Einzelwesen wiederholt. Im Gesange fällt Mensch und Ton und Herz in eins zusammen, gleichsam in eine Brust – indes Instrumente ihm ihre Stimmen nur zu leihen scheinen –; mit welchen Armen kann er nun die kleinen Wesen näher und milder an sich ziehen als mit seinen geistigen, mit den Tönen des eignen Herzens, mit derselben Stimme, die immer zu ihnen spricht, auf einmal aber sich in der musikalischen Himmelfahrt verklärt? –

Dabei haben sie den Vorteil und das Bewußtsein, daß sie selber auf der Stelle nachmachen können. Singen erstattet das Schreien, das die Ärzte als Lungen-Palästra und erste Rede-Waffenübung so loben. Gibt es etwas Schöneres als ein frohsingendes Kind? – Und wie pflegt es unermüdet zu wiederholen, was sonst gerade diesem Seelchen in allen andern Spielen so widersteht! Wie das spätere Alter, der Alpenhirt, der angekettete Arbeiter die Leere und den Sitzzwang versingen: so versingt das Kind die Kindheit und singt fort und hört nur sich. Denn Tonkunst, als die angeborne Dichtkunst der Empfindungen, will eben, wie jede Empfindung, nichts sagen als dieselbe Sache unersättlich im Wiederholen, unerschöpft durch Laute.

Der Vater, ähnlich den Friesländern – dem Sprichworte zufolge: Frisia non cantat –, singt nicht oder selten; ich wollte, er tät’ es für seine Kinder; und die Mutter für ihn und sie.“

Jean Paul Friedrich Richter (1807): Levana oder Erziehlehre, drittes Bruchstück, fünftes Kapitel, § 61.