19.07.2022

Im Jahrestarot hatte ich den Gehängten gezogen errechnet. Der Name ist irreführend. Es handelt sich nicht um einen Verurteilten am Galgen, sondern um jemanden, der kopfüber an einem von grünen Blättern bekränzten Balkenkreuz hängt. Seine Hände sind hinter dem Rücken verschränkt. Er ist unfreiwillig zur Passivität gezwungen, und je mehr er sich wehrt und strampelt, desto unbequemer wird ihm seine aussichtslose Lage bewusst. Er muss so lange hängen, bis er die Nutzlosigkeit seines Aufbäumens und die scheinbar hoffnungslose Situation akzeptiert. Erst dann gelangt er zur Erkenntnis und zum Perspektivwechsel, der in manchen Darstellungen als sonnige Aura um seinen Kopf oder mit einem Lächeln dargestellt wird. Das klingt zunächst vielleicht nach „Krise als Chance“, legt aber zu viel Gewicht auf den Aufbruch. Das eigentliche Motto dieser Karte ist „Wehre dich nicht, sondern sieh hin“.

Jetzt habe ich ja eigentlich mit Kartenlegen, Sterndeutungen und Kaffeesatzinterpretationen nicht viel am Hut. Dennoch musste ich dieses Jahr immer wieder an den Gehängten denken. Zwischendurch verängstigt, ob sich solche Prophezeiungen nicht selber erfüllen und ich mich selber in eine Sackgasse manövriere, aber meistens verwundert darüber, wie viel Widerstand nach jeder Kapitulation doch noch in mir lauerte. Ich kenne das vom Yoga. Wenn ich mich in einer Vorbeuge eingerichtet habe und glaube, an meinem Maximum zu sein, kommt ein paar Atemzüge später der Boden doch noch einen Millimeter näher. Loslassen statt Runterziehen.

Stand in einer der Beschreibungen nicht etwas davon, dass sich das Blatt nach der ersten Jahreshälfte wenden würde? Dann wird es aber langsam Zeit. Nein, da verwechsel ich etwas, vielleicht ist das aus dem Jahreshoroskop? Wir waren an dem Abend hungrig nach Zukunftsgewissheit alle Wahrsagungsformen durchgegangen, die wir zur Verfügung hatten. Ungeduld ist auch ein Strampeln, wenn auch für Fortgeschrittene. Dahinter scheint die Akzeptanz, die immer wieder kurz erhascht, kaum anvisiert, schon wieder lächelnd einen Schritt zurücktritt. Die Lösung ist so naheliegend und deshalb das Problem so schwer zu erklären.