Jahr: 2020

11.03.2020

Twitter auf.
Italienische Behörden veröffentlichen Richtlinien, nach welchen Kriterien entschieden werden soll, wer Zugang zu Betten in Intensivstationen bekommen und ob dieser mit einer Altersgrenze versehen werden sollte.
Twitter zu.
Habermas Interview auf, aber auch der hat auch keine Antworten,

[…] Dabei fällt mir das strukturelle Problem auf, das mich seit Einführung der digitalen Kommunikation, also spätestens seit den frühen 1990er Jahren, irritiert und ratlos zurückgelassen hat. Ich weiß einfach nicht, wie in der digitalen Welt ein funktionales Äquivalent für die seit dem 18. Jahrhundert entstandene, aber heute im Zerfall begriffene Kommunikationsstruktur großräumiger politischer Öffentlichkeiten aussehen könnte. Das Netz ist von seinen Pionieren gerade wegen seiner anarchischen Infrastruktur zu Recht als befreiend gefeiert worden. Aber gleichzeitig verlangt das Moment der Gemeinsamkeit, das für die demokratische Meinungs- und Willensbildung konstitutiv ist, auch eine Antwort auf die spezielle Frage: Wie lässt sich in der virtuellen Welt des dezentrierten Netzes – also ohne die professionelle Autorität einer begrenzten Anzahl von Verlagen und Publikationsorganen mit geschulten, sowohl redigierenden wie auswählenden Lektoren und Journalisten – eine Öffentlichkeit mit Kommunikationskreisläufen aufrechterhalten, die die Bevölkerung inklusiv erfassen? […] Die klassischen Massenmedien konnten die Aufmerksamkeit eines großen nationalen Publikums bündeln und auf wenige relevante Themen lenken; das digitale Netz fördert die Vielfalt kleiner Nischen für beschleunigte, aber narzisstisch in sich kreisende Diskurse über verschiedene Themen. Die unbestreitbaren Vorteile dieser Technik stellt ja niemand in Frage. Aber im Hinblick auf den Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit interessiert mich der eine Aspekt: Sobald die zentrifugalen Kräfte dieser »Blasen« bildenden Kommunikationsstruktur die Sogwirkung der inklusiven Öffentlichkeit aufwiegen, dürften sich konkurrierende öffentliche Meinungen, die für die Bevölkerung im Ganzen repräsentativ sind, nicht mehr ausbilden können. Die digitalen Öffentlichkeiten würden sich dann auf Kosten einer gemeinsamen und diskursiv gefilterten politischen Meinungs- und Willensbildung entwickeln. […]

zumindest was die Gegenwart betrifft. Wie man da hingekommen ist, das kann er erklären und das reicht mit 90 ja wohl auch. Nur beim Ende bin ich mir nicht sicher, ob die Beschreibung der Tür noch angebracht ist, oder ob wir nicht eigentlich schon auf der Schwelle stehen.

10.03.2020

Es gibt halt auch diese Abende, an denen man sich so sehr nach Aufmerksamkeit Nähe und Berührung sehnt, dass man erst eine Stunde nach einem passenden YouTube Video sucht, das man versenden könnte (nicht  zu direkt, eher ein ich denk an dich, ich weiß was dir gefällt, ich hör dir zu, schau mal, worüber ich hier gestolpert bin, da musst an dich denken, schön oder), um dann eine weitere Stunde durch Tumblr zu scrollen, und nach einem Bild zu suchen, auf das man dann ein fremdes Gedicht montiert (verträumt und romantisch, sinnlich körperlich aber nicht sexuell, ein entspanntes Motiv mit nackter Note, das Gedicht nicht zu mittig, sonst sieht es aus wie eine dieser Postkarten, hoffentlich nicht too much, neee, vielleicht sogar zu wenig, keine Ahnung), nur damit der Wille nicht Raum verpufft, sondern Ausdruck findet – es zählt wie hier die Möglichkeit – und ich endlich schlafen kann.

09.03.2020

Der Innenseite meiner Wangen nach zu Urteilen beschäftigt mich gerade etwas – genauer gesagt kaue ich wohl auf etwas herum. Darum habe ich heute auf Twitter alles, was mit dem Thema Coronavirus zu tun hat stummgeschaltet und versucht auf keine Nachrichtenseiten mehr zu gehen. Testweise mit der Masterarbeit aufzuhören oder Menschen stummzuschalten wäre mit einem weitaus größeren organisatorischem Aufwand verbunden.

08.03.2020

In dem kompetitiven und neoliberalisierten Raum der new media economies, werden diejenigen Akteure:innen mit Aufmerksamkeit belohnt, die bereit sind eine Version ihres intimen Selbst zur Schau zu stellen und nur mit genügend Aufmerksamkeit sind Persönlichkeitsmarken profitabel. Wenn aber die Arbeit und ihre Präsentation als elementarer Teil der Identität verstanden werden, und diese Identität vermarktet wird, dann muss auch die Arbeit an dieser Marke – der Identität – dem Selbst so präsentiert werden, dass sie in diesem Aufmerksamkeitswettbewerb bestehen kann. Bei Influencer:innen führt das z. B. zu der paradoxen Aufgabe ihre Alltäglichkeit zu dokumentieren und sie gleichzeitig weniger alltäglich aussehen zu lassen um etwas zu erzählen zu haben. Das Frühstück im Hotelzimmer über den Wolken, Sport am Sandstrand in der Karibik.

Alles Fakes, alles Inszenierungen, alles Verschwörungen, alles Selbstdarstellung, alles Vermarktung, alles Klicks und Likes und Reichweiten. Aber wenn die Welt und das Ich nur noch aus Als-Ob-Authentizitäten besteht, sickert die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit halt ins Innere. Wenigstens das Erleben des Spektakels, der Affekt ist doch noch echt – oder?

 

07.03.2020

Als ich den ALDI Parkplatz verlasse, wird aus der trotzigen Wut Mitleid. Natürlich habe ich mich an der Kasse nicht vorgedrängelt, aber was für einen Tag oder Jahrzehnt muss man hinter sich haben, um auf den geringsten Verdacht übergangen zu werden so aggressiv zu reagieren? Missgunst und die Angst zu kurz zu kommen wachsen nicht über Nacht. Ein wenig Scham über mein privilegiertes Leben ist auch dabei. Zu Hause ist das Mitgefühl dann aufgebraucht.

06.03.2020

Im Plattdeutsch-Hochdeutschen Wörterbuch für Ostfriesland werde 15 verschiedene Redensarten aufgezählt um zu sagen, dass jemand gestorben ist. „He is inslapen“, „na de Boomkes“ oder „benede gahn“, „he hett de Lepel bisied leggt“, oder „vergeten Aam to halen“, aber am schönsten finde ich „he is ut de Tied fallen“ und „ut de Tied raakt“. – Aus der Zeit zu fallen, zu sinken, davon nicht mehr betroffen zu sein. Das klingt nach der Welt vor der Industrialisierung, vor der Erfindung von Freizeit, Pünktlichkeit und Zeitmanagement. Nach einer Lebensart, die Spuren in der Sprache hinterlassen hat und hoffnungslos von mir romantisiert eher von den Versäumnissen der Gegenwart erzählt. Zeit ist nicht etwas, das man hat, sondern in dem und mit dem man sich bewegt. Zu Sterben heißt aus dem Fluss zu steigen, während wir anderen weiter treiben.

In jedem Dorf wird ein bisschen anderes Platt gesprochen und ich weiß nicht, ob mein Opa so etwas jemals gesagt hätte, aber ich hoffe, dass er am Ufer ein schönes Plätzchen gefunden hat.

05.03.2020

Auf der Baustelle gegenüber stopft ein Mann zum dritten Mal innerhalb weniger Tage dasselbe Loch in der Fassadendämmung. Eine Krähe meint es ernst, aber er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und schiebt sich jedes Mal aufs Neue langsam das Gerüst herauf. Auf der Hälfte jeder Leiter macht er eine kleine Pause um zu Verschnaufen. Oben angekommen wartet auf ihn eine Zigarette.