2023 ist ein Proust-Jahr. Das Hörbuch der Recherche ist mein Gedankenteppich für Wege und Aufgaben, der die Nachrichten und Benachrichtigungen auffängt, die mir aus den vollen Armen fallen. Ich muss nicht immer zuhören, aber solange sich die Geschichte fortschreibt, wenn ich hinhöre, geht es auch mit dem Rest weiter. Solange überhaupt erzählt wird, darf ich schweigen.
Jahr: 2023
26.09.2023
Das Studio ist noch besetzt vom Kindertanzen. Die Mütter sitzen im Vorraum und nur eine kleine Lebenswelt und wenige Jahre davon entfernt die Frauen – nein, da sind doch noch zwei Männer – die wie ich auf den Contemporary Kurs für fortgeschrittene Anfänger:innen warten.
Statt nach der Arbeit in den Körper zurückzuführen, klebt mein Geist während der anderthalb Stunden an dem der Lehrerin und versucht die Choreografie verbissen in die Glieder zu zwingen. Es ist stickig und eng, aber Abbruch ist keine Option. Wie zur Strafe mit dem Gedanken gespielt zu haben, vergesse ich meine durchgeschwitzten Sachen in der Umkleide.
25.09.2023
Nachdem wir mittlerweile schon bei der dritten Matratze Typ, Konfiguration, Liefertermine und Rückgabebedingungen besprochen habe, fällt mir beim Vorabendspaziergang ein paar Straßenecken weiter zum ersten Mal der Matratzenhändler auf, den es hier den vergilbten Schildern nach zu urteilen nicht erst seit gestern gibt. Im Schaufenster Hammerpreise, 60 Prozent Rabatt, alles muss raus, jetzt noch günstiger und ein Mann im strahlend weißen Polohemd, der Kissen stapelt. Erst kürzlich habe ich gehört, dass sich diese Läden nur halten, weil die Margen so groß sind. Es muss nur ab und an eine Matratze verkauft werden, das reicht. Von genau diesem Gewinn zahlen Emma, Casper, Bruno und Co ihre 100 Tage Probeschlafen. Für eine Weile hatten wir sogar erwähnt, Matratzennomaden zu werden – einfach alle hundert Tage die Matratze austauschen. Bei so vielen Anbietern und dann mal zwei sind das mehrere Jahre zur Miete auf immer neuen Feder-, Kaltschaum- und Latexpolstern; dafür aber mit einer Menge Formularen, Telefongesprächen und irritierten Blicke der Nachbarn, wenn schon wieder eine Spedition im Treppenhaus anrückt. Kurz scheint mir der Verkaufsraum mit seinen bunten Werbeaufstellern und durchsichtigen Schutzbezügen im Fußbereich verlockend, aber dann lächelt mich der Mann zwischen den Kissen durchs Fenster an und seine Zähne sind so weiß gebleicht wie sein Hemd und plötzlich muss ich ganz dringend etwas an meinem Handy anschauen und weiter die Straße hinunter.
24.09.2023
Der Ausflug ist gestrichen, denn dafür müssten wir uns vom Steg wegbewegen. Das höchste der Gefühle ist eine Runde auf dem SUP, aber nur liegend, höchstens sitzend. In einem der Schränke der Hütte finde ich ein Sonnenöl, das nach Vanille und Lederhaut riecht, also marinieren uns und werden dann regelmäßig von Mahlzeiten und Gesellschaftsspielen gewendet. Als die Sonne hinter den Bäumen verschwindet, suche ich nach Zugverbindungen vom nächsten Ort. Die Regionalzüge fahren jede halbe Stunde bis tief in die Nacht. Solange braucht es mit dem Fahrrad auch in etwa zum Bahnhof und dann noch mal nach Hause. Überraschend nah, wären da nicht die Flugzeuge, die über uns ja nicht ziellos zur Landung ansetzen.
23.09.2023
Pilze sammeln, als hätte ich Ahnung davon, aber ich vertraue dem Koch, dem mobilen Internet und dem Glück, das trotz Wind und sinkender Temperaturen ganz unbekümmert auf das kleine Grundstück am See südlich von Berlin scheint.
22.09.2023
Guten Tag, ich würde mich gerne radikalisieren. Bin ich da bei Ihnen richtig?
Kommt darauf an. Was versprechen Sie sich denn davon?
Naja, ein wenig Aufregung natürlich, aber auch, dass ich dieses Hilflosigkeitsgefühl loswerde, was mich nicht schlafen lässt. Und wenn ich damit bei bestimmten Leuten eben dieses Gefühl auslösen könnte, dann wäre das natürlich auch fantastisch.
Ich hätte gewaltfreien Widerstand mit kleineren Sachschäden im Angebot.
Und nicht vielleicht auch größere Sachschäden, meinetwegen auch mit ein wenig Gewalt?
Nein, tut mir leid, ich verstehe den Reiz, aber das führen wir nicht.
Ja, besser so.
21.09.2023
Mir kriecht die Panik in die Glieder. Die App, die mit mir fühlt, die App, die mit mir atmet und die App, mit der sich sofort der Kopf abschalten lässt, wenn ich die ersten beiden Apps, alle Vorsätze ignorierend, überspringe, funktionieren nicht mehr.
Kurz nachdem ich ein neues bestellt habe, lädt das alte Handy wie zum Hohn dann aber doch wieder. Um mich verteilt liegen noch die eilig herbeigeholten Kabel, Adapter, Wattebäuschen, Reinigungstücher, Zahnstocher, eine Druckluftflasche und der Staubsauger; auf dem Computer ist noch der Taschenrechner offen, mit dem ich vor dem Kauf immer wieder Rechnungsdatum, Gehalt und Miete abgeglichen habe.