22.04.2023

Gestern wurde es spät. Meine Abfahrt verzögert sich deshalb bis zum frühen Nachmittag, aber nicht nur deswegen. Aufgrund einer Verwechselung stand die Biokiste, die wir jeden Freitag bekommen, über Nacht im Treppenhaus. Als ich sie reinholen will, finden wir darin eine junge Ratte, die völlig verängstigt zwischen Rotkohl und Radieschen kauert. Ein Nachbar sagt, wir sollen sie besser töten, aber weil die Tochter einer anderen Nachbarin aufgeregt zuschaut, haben wir eine gute Ausrede, sie stattdessen gemeinsam im Hof freizulassen. Dann diskutieren wir noch eine Weile, was wir mit dem Gemüse machen sollen. Lokal und saisonal kostet.


Eigentlich will ich mit dem Fahrrad ins Grüne. Frühlingsinspektion habe ich das beim Aufbruch genannt und mich mit meiner Literaturzeitschrift auf einer Wiese sitzend vorgestellt, aber noch ein einige Kilometer vor dem anvisierten Naturschutzgebiet nördlich von Berlin, ist in einem der Dörfer ein Mittelalterfest ausgeschildert. Ich fahre ohne zu Zögern daran vorbei, aber nur um zwei Dörfer weiter in der Kreissparkasse Bargeld abzuheben. Wieder zurück ist alles genau so, wie ich es mir vorgestellt habe, vor allem die Leute und seine Vorurteile so bestätigt zu bekommen, hat ja auch immer etwas warmes und gemütliches. Zumindest für jemanden wie mich, der in einem anderen Leben selber mit dem Schwert in der Hand am Ufer des Sees auf den langsam heran rudernden Angriff der Wikinger gewartet hätte. Stattdessen freue ich mich über den regenbogenfarbenen Strohhalm in meinem Eiskaffee und darüber, dass zumindest ein paar der abwesenden Väter nicht weiß zu sein scheinen.


Noch knapp in Brandenburg gibt mein Vorderreifen auf. Weil ich noch vor wenigen Tagen einen Platten hatte, habe ich kein Flickzeug auf meinen Ausflug mitgenommen und gerade weil wir Menschen manchmal so denken, mache ich mir Sorgen um unsere Zukunft. Unsere Vergangenheit zupft derweil im blauen Kittel Unkraut im Vorgarten. Unsere Vergangenheit hat Vorgärten. Aber auch ich habe Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein, denn gerade geht die Sonne unter und bis zur nächsten S-Bahn-Station brauche ich zu Fuß keine Stunde.