Kleindachgartenkolonie Moabit.
Jahr: 2019
06.04.2019
Die Theaterkarten lagen seit mehreren Tagen erwartungsvoll auf meinem Schreibtisch. Als ich Mittags aber immer noch niemanden gefunden hatte, um die zweite Karte zu übernehmen, entschloss ich mich doch alleine zu gehen. Ursprünglich war das eh der Plan gewesen. Die zweite Karte hatte ich in stummer, realitätschaffender Hoffnung gekauft.
Schlagartig verbesserte sich meine Laune. Getroffene Entscheidungen lassen sich viel besser erzählen.
Den Rest des Tages überbrückte ich vorfreudig mit Putzen, Aussortieren und den Blumenkübeln auf dem Balkon. Dann stieg ich in die falsche U-Bahn und merkte es erst nach fünf Stationen. Vielleicht wollte ich es auch nicht bemerken, über den Teil bin ich mir noch nicht sicher. Um Selbstmanipulation auf die Schliche zu kommen ist man auf Indizien angewiesen. Die fehlen mir noch und der Zeuge verstrickt sich in widersprüchlichen Aussagen.
Als ich meinen Fehler bemerkte war mein großzügiger Zeitpuffer schon aufgebraucht und obwohl es noch 20 Minuten bis zum Beginn der Vorstellung waren, hätte ich mindestens 30 bis zum Theater gebraucht. Ich traute mich nicht zu weinen, weil bereits eine ältere Frau im Waggon weinte. Sie sah aus, als hätte sie wirklich einen Grund dafür.
Auf dem Heimweg kaufte ich mehrere Überraschungseier als Wurfgeschosse um damit die Pärchen von den Bänken im Park zu vertreiben, konnte es dann aber doch nicht übers Herz bringen und verteilte sie in der WG. Auf der Wohnzimmerwand lief Our Planet mit David Attenborough, bei dem ich immer an Alexander Kluge denken muss, obwohl es doch noch so viele andere alte weiße Männer gibt, die einem die Welt erklären wollen. Dazu gab es Mönchshof Radler und Popcorn mit extra viel Butter und Puderzucker. Zum Nachtisch Age of Empires 2.
05.04.2019
Kopf streicheln, den Rest vergessen.
04.04.2019
Ausgedehnter Spaziergang um den Volkspark Rehberge mit Unterbrechung für eine magengrummelnde SMS auf einem Baumstamm in der Sonne, weil auch einfühlsames Druck machen immer noch Druck machen ist.
03.04.2019
Dostojewski (Die Brüder Karamasow, 1880) schrieb:
Ich sage dir, der Mensch kennt keine quälendere Sorge, als jemand zu finden, dem er so schnell wie möglich das Geschenk der Freiheit übergeben kann, mit dem er, dieses unglückliche Geschöpf, geboren wird.
Fromm (Die Furcht vor der Freiheit, 1941) ergänzte im Bezug auf die „masochistische Perversion“:
Solange ich zwischen meinem Wunsch, unabhängig und stark zu sein, und meinem Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht hin und her gerissen werde, befinde ich mich in einem qualvollen Konflikt. Gelingt es mir aber, mein Selbst auf ein Nichts zu reduzieren, und bringe ich es fertig, das Bewusstsein meiner Isolierung als Individuum zu überwinden, so kann ich mich aus diesem Konflikt retten. Sich unendlich klein und hilflos zu fühlen, ist ein Weg zu diesem Ziel; sich von Schmerz und Angst überwältigen zu lassen, ist ein anderer Weg, und ein dritter Weg besteht darin sich den Wirkungen eines Rausches auszuliefern.
Aber alles Jahre vor CBT oder ACT, Kultivierung, Aneignung und Performance. – Wo macht hier ein zeitgenössischer Text weiter?
02.04.2019
Versprechen an (m|d)/ich.
01.04.2019
L. M. Sacasas: Stages, Structures, and the Work of Being Yourself
[…] The idea is that we are now always potentially on the front stage, relentlessly managing impressions. When the stage is virtual, in other words, it is potentially everywhere. There is no backstage, or, to put it more moderately, the front stage begins to colonize what used to be backstage time and space. […] What kind of self derives from this condition? Imagine a wedding photographer who circulates, trying to capture candid images of spontaneous or unscripted moments. “Act naturally,” they might joke, before encouraging everyone to “pretend I’m not here,” ironically vocalizing the impossible possibility to diffuse some of the pressure of doing as they say. Now imagine that you are that photographer, but that it is also your wedding. And imagine also that the wedding never ends. […] [The] front stage work amounts to a practice of the self, a practice that becomes habitual and formative. It’s not so much that we internalize any one performance but that we internalize the performative mode. […] A corollary of this development is the impulse to carve out some new online backstage experience, as with fake Instagram accounts or through the use of ephemeral-by-design communication of the sort that Snapchat pioneered. […]
(Nehmen Transkripte informellen Podcasts ihren Hinterbühnencharakter?)
[…] Social media platforms […] heighten our consciousness of the performative aspects of our identity and simultaneously aim to diminish our consciousness of how we use them. […] If platforms deplete our willpower by making us hyper-self-conscious, they also are increasingly structured to make us experience the will as beside the point. Platforms are designed to make us less conscious of our decisions about how we spend time on them, attempting to automate decision-making with auto-play, notifications, and algorithmically optimized feeds to generate compulsive “engagement.” […] We end up unwittingly turning to the very source of our exhaustion, anxiety, burnout, and listlessness for release and relief from the same. The result is recreation without rest, familiarity without intimacy, play without joy, laughter without mirth, carnival without release—in short, the feeling that society is on the brink of exploding and the self is on the brink of imploding.
L. M. Sacasas: Always On