Auschecken bis zehn und dann ganz entspannt auskatern, der Zug fährt eh erst am Nachmittag. Langsam machen. Nur eben mit Leihrädern ans Meer, das Fischerdorf, das Sturmwehr und die Klosterruine besichtigen und dann den Botanischen Garten besuchen. Zwischendurch Mittagessen und Kaffee trinken. Low key halt. Keine Eile. Aber wenn wir weniger als fünfzehn Minuten für die Strecke brauchen, dann kostet die Fahrt nur einen Euro.
Jahr: 2022
03.09.2022
Es gibt einen bestimmten Typ DJ, der vor allem auf Dorffesten, Hochzeiten und runden Geburtstagen jenseits der 30 zu finden ist. Meist tritt er in Form ergrauter Männer vor bunten Lichtanlagen in Erscheinung. Diese DJs haben über ihrem Laptop immer ein Mikrofon, singen aber selber nie. Ihre Spezialität sind Partyschlager und House-Versionen von Hits der 70er und 80er. Leonardo DiCaprio ist nur mit Frauen unter 25 zusammen, diese Männer klammern sich an den Bass. Das gefällt den Jungen und Alten nicht, aber sie sind die Helden der Mitte und am Ende des Abends tanzen trotz oder wegen ihnen doch alle. (Freigetränke helfen.)
02.09.2022
Doja Cat steigt vom Berg Athos. Frauen sind hier verboten, aber in eine dunkle Kutte gehüllt hat sie in der Nacht unbemerkt die Halbinsel betreten. Ihre Jacht ist als Fischerboot getarnt. Tote Fische überdecken den Duft ihrer Seifen und Cremes.
Der Eremit in der Höhle unter dem Gipfel hatte sie bereits erwartet, aber auch er wusste auf ihre Frage keine Antwort. So schwiegen sie gemeinsam und blickten aufs Meer. Bei Sonnenaufgang wurde ihr dann alles klar. Die Frage war falsch. Ein Phantasma. Befreit kickt sie einen Stein den Hang hinunter.
01.09.2022
»Art and morals are, with certain provisos which I shall mention in a moment, one. Their essence is the same. The essence of both of them is love. Love is the perception of individuals. Love is the extremely difficult realisation that something other than oneself is real. Love, and so art and morals, is the discovery of reality. […] The tragic freedom implied by love is this: that we all have an indefinitely extended capacity to imagine the being of others. Tragic, because there is no prefabricated harmony, and others are, to an extent we never cease discovering, different from ourselves. Nor is there any social totality within which we can come to comprehend differences as placed and reconciled. We have only a segment of the circle. Freedom is exercised in the confrontation by each other, in the context of an infinitely extensible work of imaginative understanding, of two irreducibly dissimilar individuals. Love is the imaginative recognition of, that is respect for, this otherness.«
Ein paar Tabs, ein paar Absätze und dann wieder „Vier Dinge, die wir bei Hausbau wieder genauso machen würden“. Instagram versteht mich noch nicht so gut wie TikTok, dabei sind wir schon viel länger zusammen. Echter Luxus ist über L. M. Sacasas, Ivan Illich und Simone Weil bei Iris Murdoch landen zu können, ohne dafür in die Bibliothek fahren zu müssen oder den Tee neu aufzugießen.
31.08.2022
Ich war gerade den Grünen beigetreten, als Hans-Christian Ströbele die Politik verließ. Unter dem gemeinsamen Gewicht von Trump und der Klimakatastrophe, ließen sich meine Zukunftsängste Anfang 2017 nicht mehr mit der gelegentlichen Teilnahme an Demos und geteilten Tweets ruhig stellen, also blieben mir nur noch Terrorismus oder Parteipolitik und für den Untergrund war ich zu eitel.
Kurz nach meinem Eintritt begann ich ihn bei meinen Spaziergängen an der Spree zu bemerken, wo er auf seinen Rollator gestützt oft auf einer kleinen Mauer in der Sonne saß. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeiging, dachte ich, ja, es gibt immer noch viel zu tun, aber bleib du hier sitzen und ließ weiter deine Zeitung, wir übernehmen jetzt, keine Angst, und meinte dabei mich und nicht ihn, aber es funktionierte. Das werde ich vermissen.
30.08.2022
Eine junge Frau in Tränen am Telefon vor dem Blumenladen an der Ecke und später noch eine, auf der Bühne im Theater. Bei der zweiten kann ich in Ruhe hinschauen, sehe in ihr aber nur die erste.
Zwei Jugendliche halten es gar nicht aus und müssen angestrengt wegsehen. Die anderen um sie herum lachen. Noch schlimmer bei der Sexszene. Einer hält sich am an anderen fest, aber der streicht auf seine Knie gestützt immer wieder mit Zeigefinger und Daumen über die geschlossenen Augen zum Nasenbein. Die Geste hat er aus dem Internet. Das erkenne ich doch. Die FremdScham der Coolen.
29.08.2022
Eigentlich gehe ich zu diesem Tanzkurs ja nur, weil ich mag, wie die chilenische Lehrerin das Wort „Popo“ ausspricht. Wenn sie das sagt, dann klingt das nicht nach muskelkaterbewegter Schwabbelmasse, Pickeln und Dehnungsstreifen, sondern nach federleicht verführerischer Tanzflächenakrobatik mit Stahlkern. Aber auch wie ein leckeres Cremetörtchen. Verschwitzt und doch zum Reinbeißen. Das hätte ich gerne als Bildunterschrift unter meinem Porträt stehen.