Jahr: 2022

25.09.2022

Am Nachmittag Bäume bestimmen im Park.
Am Abend im Tanzstudio selber den Ästen und Verzweigungen nachspüren.

So noch ganz in Holz und Borke gekleidet, wiegt sich mein Wipfel im Wind aber der Stamm steht fest. Wurzelklammernd steif, auf Nüsse bedacht.
Kein Core-Workout notwendig.

24.09.2022

Vorzugssonntag, der

Ein Samstag in der Gestalt eines entspannten Sonntags, welcher kurz vor Ladenschluss doch noch hektisch wird, um auf den eigentlichen Sonntag vorbereitet zu sein.

Das Besondere am Vorzugssonntag ist, dass er in seiner Ausnahmehaltung über die meiste Zeit des Tages dem Ideal eines freien Sonntags näher kommt, als es der mit Erwartungen belastete tatsächliche Sonntag jemals könnte. „Komm, wir gehen nochmal ins Bett.“, sagt sich einfacher, wenn am nächsten Tag auch noch Zeit ist, um spazieren zu gehen. Außerdem hat ALDI am Vorzugssonntag geöffnet. Schon das macht ihn zum besseren Sonntag.

23.09.2022

Eine kleine Fahrradtour durch Sozial- und Zeitzonen. Am Vormittag erst Klimastreik in Mitte, am Nachmittag dann von Moabit nach Friedrichshain zum Kaffee und Kuchen auf der 5000 Euro Couch und kurz bevor die Käseplatte serviert wird, weiter zum 10 Jahre jüngeren Geburtstagskind nach Schöneberg. Als da die meisten Gäste ankommen, habe ich mich schon längst am Nudelsalat überfressen, alle körperliche Gebrechen und das Motto („end of hot girl summer“) bereits ausgiebig diskutiert und bin eigentlich bereit fürs Bett. Dazu kein Kommentar. Auf dem Weg nach Hause letzte Reste von Sommernachtgefühlen.

22.09.2022

Halt mal kurz an.

Was ist?

Ich muss dir etwas gestehen …

… Ok?

Ich habe die Kastanie verloren.

WAS?

Schon vor anderthalb Minuten.

Dann gehen wir zurück!

Nee, ich wollte mich nicht umdrehen. Nicht schon wieder. Sie ist mir nach hinten aus der Hand gerutscht. Vielleicht ist es besser so. Es kommen ja noch mehr Kastanienbäume.

Je wichtiger dir eine Sache ist, desto leiser bist du, weißt du das eigentlich? Aber wenn du Milch verschüttest, heulst du laut auf.

Es war eben eine sehr schöne Kastanie.

21.09.2022

Jürgen Habermas hat ein neues Buch veröffentlicht und darin steht durch seinen Namen geadelt, von Suhrkamp gedruckt und zitierbar gemacht, was wir schon seit Jahren erzählen, nämlich dass man durch geputzte Fenster besser sieht. Gerade im Winter sei das wichtig, führt er aus, denn da gelte es jedem Lichtstrahl den Weg zu bereiten, welcher Einlass in die kalte Wohnung begehre. Habermas lässt hier keine Zweifel daran, wie er sich in der Fensterfrage positioniert und weiß dies auch historisch zu begründen. Selbst mit dem von seinen Gegnern oft vorgebrachtem Einwand, dass dreckige Scheiben besser isolieren, setzt er sich in diesem Buch abschließend über mehrere Kapitel auseinander. Ob das in dieser Ausführlichkeit nötig gewesen ist, mag fraglich sein, doch beeindruckend ist diese Ausdauer und Genauigkeit durchaus. Nur zur Frage nach zurückbleibenden Schlieren, ja generell zu Fragen der Ästhetik hält Habermas sich überraschend bedeckt, wobei in der Verkürzung der Schlieren auf ihren Makelcharakter ja vielleicht gerade der Schlüssel ihrer blickpolitischen Bedeutung liegt. Vier von fünf Fensterledern.

20.09.2022

In den letzten Tage gab es immer wieder Mutmaßungen, dass manche der Personenschützer von König Charles eine Handattrappe haben. Auf Bildern und Videos sind sie mit seltsamen Fingerhaltungen, Beulen unter ihren Sakkos oder einem übermäßig schwingenden Armen zu sehen. Während manche auf TikTok darin jahrelanges Training erkennen, möglichst schnell eingreifen zu können, sind diese Bilder für andere der Beweis, dass falsche Hände von den Schusswaffen ablenken sollen, welche die Personenschützer schussbereit unter ihren Jacken verborgen halten.

Ich bewege eine frisch geschlüpfte Kastanie in meiner Hosentasche hin und her und scanne die Gesichter der Passanten am Spreeufer. Alle scheinen zufrieden und glücklich über die Sonnenstrahlen zwischen den Regenschauern. Aber sollte es doch anders kommen, wäre ich bereit, blitzschnell einen Handschmeichler anzubieten.

19.09.2022

Der Weltuntergang hält die Luft an. Am Himmel steht ein Feuerball wie eingefroren und ich radele in seinem Licht nach Hause. Dafür, dass gleich eine Flammenwand alles Leben auf dem Planeten auslöschen wird, ist es aber erstaunlich nass und kalt.

Ich fahre mehr aus Gewohnheit weiter, als dass es etwas an der Tatsache ändern würde. Besser in Bewegung bleiben als die Verantwortung für den Moment nach dem Anhalten übernehmen zu müssen.

Sonst scheint den Feuerball auch niemand zu bemerken, vielleicht kann ich also doch wieder ausatmen. Vielleicht ist aber auch nur eine Wolke davor gezogen und ich sehe das Licht, das sich in meine Netzhaut gebrannt hat. Das wäre schon mal etwas. Ich würde vor der Apokalypse nämlich gerne doch duschen und etwas essen.