Monat: März 2020

10.03.2020

Es gibt halt auch diese Abende, an denen man sich so sehr nach Aufmerksamkeit Nähe und Berührung sehnt, dass man erst eine Stunde nach einem passenden YouTube Video sucht, das man versenden könnte (nicht  zu direkt, eher ein ich denk an dich, ich weiß was dir gefällt, ich hör dir zu, schau mal, worüber ich hier gestolpert bin, da musst an dich denken, schön oder), um dann eine weitere Stunde durch Tumblr zu scrollen, und nach einem Bild zu suchen, auf das man dann ein fremdes Gedicht montiert (verträumt und romantisch, sinnlich körperlich aber nicht sexuell, ein entspanntes Motiv mit nackter Note, das Gedicht nicht zu mittig, sonst sieht es aus wie eine dieser Postkarten, hoffentlich nicht too much, neee, vielleicht sogar zu wenig, keine Ahnung), nur damit der Wille nicht Raum verpufft, sondern Ausdruck findet – es zählt wie hier die Möglichkeit – und ich endlich schlafen kann.

09.03.2020

Der Innenseite meiner Wangen nach zu Urteilen beschäftigt mich gerade etwas – genauer gesagt kaue ich wohl auf etwas herum. Darum habe ich heute auf Twitter alles, was mit dem Thema Coronavirus zu tun hat stummgeschaltet und versucht auf keine Nachrichtenseiten mehr zu gehen. Testweise mit der Masterarbeit aufzuhören oder Menschen stummzuschalten wäre mit einem weitaus größeren organisatorischem Aufwand verbunden.

08.03.2020

In dem kompetitiven und neoliberalisierten Raum der new media economies, werden diejenigen Akteure:innen mit Aufmerksamkeit belohnt, die bereit sind eine Version ihres intimen Selbst zur Schau zu stellen und nur mit genügend Aufmerksamkeit sind Persönlichkeitsmarken profitabel. Wenn aber die Arbeit und ihre Präsentation als elementarer Teil der Identität verstanden werden, und diese Identität vermarktet wird, dann muss auch die Arbeit an dieser Marke – der Identität – dem Selbst so präsentiert werden, dass sie in diesem Aufmerksamkeitswettbewerb bestehen kann. Bei Influencer:innen führt das z. B. zu der paradoxen Aufgabe ihre Alltäglichkeit zu dokumentieren und sie gleichzeitig weniger alltäglich aussehen zu lassen um etwas zu erzählen zu haben. Das Frühstück im Hotelzimmer über den Wolken, Sport am Sandstrand in der Karibik.

Alles Fakes, alles Inszenierungen, alles Verschwörungen, alles Selbstdarstellung, alles Vermarktung, alles Klicks und Likes und Reichweiten. Aber wenn die Welt und das Ich nur noch aus Als-Ob-Authentizitäten besteht, sickert die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit halt ins Innere. Wenigstens das Erleben des Spektakels, der Affekt ist doch noch echt – oder?

 

07.03.2020

Als ich den ALDI Parkplatz verlasse, wird aus der trotzigen Wut Mitleid. Natürlich habe ich mich an der Kasse nicht vorgedrängelt, aber was für einen Tag oder Jahrzehnt muss man hinter sich haben, um auf den geringsten Verdacht übergangen zu werden so aggressiv zu reagieren? Missgunst und die Angst zu kurz zu kommen wachsen nicht über Nacht. Ein wenig Scham über mein privilegiertes Leben ist auch dabei. Zu Hause ist das Mitgefühl dann aufgebraucht.

06.03.2020

Im Plattdeutsch-Hochdeutschen Wörterbuch für Ostfriesland werde 15 verschiedene Redensarten aufgezählt um zu sagen, dass jemand gestorben ist. „He is inslapen“, „na de Boomkes“ oder „benede gahn“, „he hett de Lepel bisied leggt“, oder „vergeten Aam to halen“, aber am schönsten finde ich „he is ut de Tied fallen“ und „ut de Tied raakt“. – Aus der Zeit zu fallen, zu sinken, davon nicht mehr betroffen zu sein. Das klingt nach der Welt vor der Industrialisierung, vor der Erfindung von Freizeit, Pünktlichkeit und Zeitmanagement. Nach einer Lebensart, die Spuren in der Sprache hinterlassen hat und hoffnungslos von mir romantisiert eher von den Versäumnissen der Gegenwart erzählt. Zeit ist nicht etwas, das man hat, sondern in dem und mit dem man sich bewegt. Zu Sterben heißt aus dem Fluss zu steigen, während wir anderen weiter treiben.

In jedem Dorf wird ein bisschen anderes Platt gesprochen und ich weiß nicht, ob mein Opa so etwas jemals gesagt hätte, aber ich hoffe, dass er am Ufer ein schönes Plätzchen gefunden hat.

05.03.2020

Auf der Baustelle gegenüber stopft ein Mann zum dritten Mal innerhalb weniger Tage dasselbe Loch in der Fassadendämmung. Eine Krähe meint es ernst, aber er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und schiebt sich jedes Mal aufs Neue langsam das Gerüst herauf. Auf der Hälfte jeder Leiter macht er eine kleine Pause um zu Verschnaufen. Oben angekommen wartet auf ihn eine Zigarette.

04.03.2020

Bücher zurückbringen, weil man sich nur eine begrenzte Zeit lang vormachen kann, dass man sie noch lesen wird. Und wenn dann im Bibliothekskonto steht, das jemand eins der Bücher vorbestellt hat, dann wäre es unfair, sie ungenutzt auf dem Schreibtisch liegenzulassen, wo sich einen vorwurfsvoll anstarren und Platz wegnehmen.

Auf dem Rückweg dann in der Universität vorbeifahren, wo der frisch emeritierte Professor in seinem Büro beaufsichtigt wie seine Regale von Student:innen geplündert werden und mit doppelt so vielen Bücher wieder nach Hause kommen. Genauso kostbar wie die Erstausgaben sind die Zettel, Anstreichungen und Notizen zwischen den Seiten.