Monat: Juni 2020

09.06.2020

Gelegentlich überquere ich Ampeln, ohne auf der anderen Straßenseite anzukommen. Dann biege ich mit dem Fahrrad links ab und werde teil des Verkehrs. Habe ich die Meter vor der Ampel das Fahrrad geschoben, gehe ich nach dem Aufsteigen in einen unsichereren (gefährlicheren) Zustand über. Bin ich vorher auf dem Bürgersteig gefahren, ist es jedoch eine sichere (rechtmäßige) Zustandsveränderung. Von außen betrachtet ist die Handlung ab dem Moment, in dem ich mich in Bewegung setze, die gleiche, aber ich erlebe sie als grundverschieden. Und selbst wenn man mich vorher beobachtet hätte, wüsste man immer noch nichts von den Regeln, Werten und Gefahrenvorstellungen, aufgrund derer ich meinen Bewegungsablauf beobachte und bewerte.

Es ist kompliziert und den Gegenwartsbezug gibt es zum selber ausmalen. Das kommt davon, wenn die Kopfhörer kaputt sind und man beim Fahrrad fahren die Gedanken nicht mit einem Podcast im Bürgersteigohr beisammen halten kann. Da soll mir keiner, dass das sicherer sei, so zu fahren.

08.06.2020

Ich treffe eine Alpenwanderentscheidung – die Laufschuhe werden schon reichen – und springe mir mit diesen Schuhen beim Basketball spielen kurz danach zwei große Blasen an die Füße. Aber das sind ja völlig andere Bewegungen. (Oder???)

07.06.2020

Ich verstehe das Warum, Wieso und Weshalb, aber die Bilder von umstürzenden Statuen auf Twitter beunruhigen mich trotzdem. Vielleicht liegt es an der Materialität, der zu Fall gebrachten Abbilder. Virtuelle Gewalt berührt mich selten, aber ein 300 Jahre alter, massiver Sklavenhändler und Massenmörder schon? Liegt es vielleicht an dem Alter der Statue? Aber wo ziehe ich dann die Grenze? Was unterscheidet die frisch gegossene Büste von Baschar al-Assad, einen Marmorhitler und die überlebensgroßen Generäle aus dem deutsch-französischen Krieg voneinander? Wer wird zerstört, abgebaut, umgesetzt, eingelagert und wer bekommt nur eine neue Plakette? Und wann darf das eine Menge selbst in die Hand nehmen?

06.06.2020

Über Mitte schwebt ein Aufklärungshubschrauber und wirkt unentschlossen. Als wir uns einen Weg aus der Menge bahnen, sehen wir noch zwei Schilder, welche die mitunter gut-gemeint-verfehlte Stimmung treffen: “Black is beautiful” und “Das einzige, was mich von einem Schwarzen unterscheidet, ist, dass ich Sonnenschutzfaktor 50+ brauche”. Auf dem Weg nach Hause kommen wir dann noch an vier weiteren Demonstrationen vorbei: Reichskriegsflaggen, ein veganer Verschwörungstheoretiker, irgendwas mit Venezuela und eine Corona-Demo, gut daran zu erkennen, dass niemand eine Maske trägt.

05.06.2020

Mittlerweile arbeite ich an der dritten Fassung der Masterarbeit (Digitale Abgabe → Druckfassung → Webversion). Spätere Generationen – die mit intelligenter Sprachsteuerung, mündlichen Interfaces und Gedankensteuerung – werden die Qualen einer Textformatierung genauso wenig verstehen, wie ich mir nicht vorstellen kann, wie man mit Schreibmaschinen, Lochkartencomputern und Telefonzellen ernsthaft etwas produktiv zustande bringen kann.

04.06.2020

Schlecht geschlafen, unkonzentriert gearbeitet, mittelmäßig gekocht.

03.06.2020

Vormittags unter der Woche liegen am See die Profi-Bräter, die Dicklederhäute, die Langzeitbelichter die pensionierten FKK-Veteranen mit Goldkettchenabzeichen und ich, mindestes halb so alt und doppelt so weiß. Eigentlich wollte ich wandern gehen, hatte Routen studiert, Proviant besorgt und meinen Rucksack gepackt, mich dann aber doch stattdessen kurzfristig zum Ausflug an den See. Aber auch da hält es mich nicht lang. Zu müde für Bewegung zu unruhig, um sich hinzulegen. Nach einer Runde im See steige ich wieder aufs Rad und essen den Proviant mittags zu Hause, bevor ich noch mal drei Stunden ins Bett gehen.

Ich weiß nicht, was mich mehr ärgert: das Gefühl von Freizeitplanversagen nicht loslassen zu können, die Scham wieder nach Hause zu kommen und mich meinen Mitbewohner:innen gegenüber zu erklären, das schlechte Gewissen, den auf dem Rückweg gekauften Frusteisbecher am Stück geleert zu haben, oder am Morgen die Intuition in der Hängematte zu bleiben nicht ernst genug genommen zu haben.

Aber ich weiß, dass die Hängematte noch da war, als ich wieder aufgewacht bin, ich darin seit längerer Zeit mal wieder geschafft habe einige Romanseiten am Stück zu lesen, die Amsel immer mehr Zeit auf unserm Balkon verbringt und dass ich heute zum ersten Mal in diesem Jahr wieder schwimmen war.