Rassismusgeständnis aus der Ausstellung über die indigene Filmemacherin Alanis Obomsawin: Ich hatte mehr Ethnomystizismus und weniger Aktivismus erwartet. Jetzt ist es raus. Die politischen Kämpfe passten nicht zu meinen Idealen von Ursprünglichkeitsromantik. Die bemerkte ich schon ein paar Tage vorher mal wieder, weil mir eine Liste mit Fragen untergekommen war, die abfragt, wie gut man den Ort kennt, an dem man lebt. Dass ich bei Ort erst an die Stadt, also die Verwaltungsgeografie dachte, ist genau worauf der Fragebogen von 1981 aufmerksam machen wollte: Weißt du welchen Weg dein Trinkwasser nimmt? Welch essbaren Pflanzen hier wachsen? Welche Blumen als erstes im Frühling blühen? Aus welcher Richtung die meisten Stürme aufziehen? Und so weiter. Wenn ich nur das wüsste, dann wäre ich auch wieder näher an der Welt und nicht so entfremdet vom großen Ganzen, so die Erzählung. Und es ist natürlich nicht ganz falsch, aber fehlen die Barrikaden, die Gerichtsverhandlungen und die Müllabfuhr.
Monat: Februar 2022
20.02.2022
Im Futurium kann man Zukunftsvisionen erleben, aber für die Schließfächer neben den Toiletten braucht man fünfzig Cent oder einen Euro, was die asiatischen Touristinnen neben uns vor große Schwierigkeiten stellte.
Weil es in der Umgebung kaum Cafés gibt, deren Inneneinrichtung und Geschäftsmodell nicht auf teuren Lunch-Break-Sandwiches und Smoothies basiert, setzen wir uns nach dem Museum in den Hauptbahnhof. Nur hier bekommt man am gleichen Tisch aufgewärmte Pizza, Käsekuchen und eine Ingwer-Kurkuma-Latte.
Beim Spaziergang Richtung S-Bahn bekomme ich die Umbaumaßnahmen im Zoo erklärt. Die Vortragende ist zehn, hat eine Dauerkarte und meine Zwischenfragen werden von ihr toleriert, weil ich offensichtlich noch sehr viel zu lernen habe.
19.02.2022
Zwei Tage bis Bewerbungsschluss und ich hadere. Das Themenumfeld geht in die richtige Richtung, ich stelle mir die Menschen nicht unangenehm vor und ich würde bestimmt auch gutes zwischenmenschliches und administratives Handwerkszeug lernen, also eben das, was learning-by-doing Selbermachen wie mir oft fehlt, obwohl das so theoretisch weit weg anfühlt wie das Konzept der Note, die mit ins Abi eingeht. Aber dann? Wohin damit? Verschiebt sich das Problem des festfahrenden Lebenslaufs nicht nur? „You need to date your career choices not marry them“, klingt mir noch um Kopf nach und trotzdem gruselt es mich. Nicht wie beim „Gehe dahin, wo die Angst ist“, dass ich so gerne predige, sondern irgendwie dunkler. Nur sind die meisten dunklen Gassen eben harmlos, aber wie soll ich darüber nachdenken, wenn ich konstant angeschrien werde: „Glaubst du etwa, du bist zu gut oder besonders, um dort entlang zu gehen?“, höre ich die Stimmen. „Bist du einer von den Versagern, mit aufgeblähtem Wohlstands-Ego, der tatenlos ausharrt und in grandiosen Tagträumen schwelgt, anstatt sich wie alle anderen die Hände schmutzig zu machen und der irgendwann, als Enttäuschung für sich und seine Mitmenschen verbittert auf seine verschwendete Lebenszeit zurückblickt?“
Ich komme im Laufe des Vormittags immer wieder zur Stellenanzeige zurück. Zwischendurch baue ich meinen Rasierkopf auseinander, bestelle einen neuen, verabrede ein Kennenlerngespräch mit einer Therapeutin, beantworte ein paar Nachrichten, buche neue Tanzkurse, und feile meine Nägel. Dann packe ich zusammen und gehe Joggen. Am Abend entdecke ich mich immer noch da, wo ich mich stehengelassen habe, enttäuscht und verängstigt, zurückgelassen worden zu sein.
18.02.2022
An der Kasse des zweiten Second Hand Ladens merke ich, dass ich die Tasche mit dem Geld in der Umkleide des ersten vergessen habe. Mit Rückenwind vom Sturmtief eile ich zurück, aber kein Grund zur Panik, alles hängt noch unberührt am Haken. Dann überlege ich, ob ich noch Lotto spielen soll. Freitags ist Eurojackpot, aber das ist eine Frage des Glückskonzepts. Handelt es sich bei Glück um eine Ressource mit Tagesration, könnte sie schon aufgebraucht sein, als Energie mit Mondphasenbonus wäre es eine Schande, sie nicht zu nutzen und als Unfähigkeit des Hirns mit Stress und Wahrscheinlichkeiten umzugehen, wäre es schlauer, die zwei Euro fünfzig einfach direkt in Zucker zu investieren. Ich entscheide mich für eine Kombination und greife blind in den Kühlschrank und die Süßigkeitenauslage. Fritz Cola und Centerschocks.
17.02.2022
Mal eben schnell ein Loch zuspachteln und einen Fleck überpinseln, einen Riss überkleben, ein Formular ausfüllen, Glühbirnen tauschen, eine Briefmarke suchen und Blumen auf den Tisch stellen.
Mal eben eine Wand einreißen und vom Balkon einen Aufstand anzetteln, ein Regiment kommandieren, die Kontrolle übernehmen, Verräter exekutieren und eine schöne Frau an die Leine legen.
16.02.2022
Irgendwann ist das warme Wasser alle und ich steige mit in die Badewanne, weil mir die Vorstellung von Archimedes immer gefallen hat und mit mir steigen auch die Anderen zu, die Vorfahren, die Passanten und auch die Gelehrten:
„Die Sprache ist eine Haut: ich reibe meine Sprache an einer anderen. So als hätte ich Worte anstellen von Fingern oder Finger an den Enden meiner Worte. Meine Sprache zittert vor Begierde. Die Unruhe erwächst aus deinem doppelten Kontakt: einerseits bringt eine regelrechte Diskursaktivität diskret, indirekt ein einzigartiges Signifikant zur Geltung, jenes »Ich begehre dich«, und setzt es frei, speist es, verästelt es, lässt es explodieren (die Sprache berührt genießerisch sich selbst); andererseits wickle ich den Anderen in meine Worte ein, streichle, berühre ihn sanft damit, fahre mit diesem Streicheln fort, verausgabe mich dabei, dem Kommentar Dauer zu verleihen, den ich der Beziehung angedeihen lasse.
(Als Liebender sprechen heißt ohne Ziel, ohne Krise verausgaben […])“
Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe – „Die Unterhaltung“
15.02.2022
Ganz egal, ob Altersunterschied oder abgebrochenes Yogavideo: „An einem anderen Punkt sein“, klingt für mich nach einem herabschätzigen Blick von oben herab, nach mitleidigen Augen, die sich heimlich lustig machen oder eigentlich, die enttäuscht von mir sind. Dann lieber ducken und lauern.
Gleichzeitig rührt mich jede Blüte, die am Jahresanfang dem Winter trotzt. Gleichzeitig freue ich mich für die Frau, die zum ersten Mal zur Tanzklasse kommt und die am Ende etwas weniger Angst in den Augen hat.