Monat: Juli 2022

24.07.2022

Triebwerkprobleme am Provinzbahnhof. Alle aussteigen und rüber auf Gleis vier, um da auf nächste Möglichkeit auf den Anschluss in Bamberg zu hoffen. Im Gang der überfüllten Regionalbahn ist von der Klimaanlage nichts zu spüren und ich schiebe mir zur Stressbewältigung die schon halb geschmolzene Tafel Schokolade in mich hinein, die ich mir eigentlich für den ICE aufgehoben hatte. Schweißfabrik Sitter – Körperbefeuchtung seit 1993. Auch mit wenig Schlaf verlässlich für Sie deutschlandweit im Einsatz.

23.07.2022

Beim zwanzigjährigen Studiengangjubiläum ist mein Jahrgang (nach den aktuell Studierenden) am stärksten vertreten. Das fühlt sich gut und richtig an. Die meisten haben nach dem Bachelor noch einen Master gemacht, identifizieren sich aber weiterhin über ihre Studienzeit hier. Den Studiengangskoordinator freut das und mich auch, als würde das den Preis des Tickets und der Unterkunft rechtfertigen.

Es ist kein Abend für Selbstverwirklichungsquartett oder Aussprachen. Mit zunehmendem Pegel entspannen sich die Augenwinkel und während das eine schlechte Gewissen zunimmt, löst sich das andere auf. Neben den Getränkekühlschränken steht eine offene Kasse auf Vertrauensbasis. Ein Bier kostet einen Euro. Spät in der Nacht wechsele ich mir mehrmals Ein-Euro-Stücke in Zwei-Euro-Stücke, weil ich für das Frühstück und den Proviant für die Rückfahrt kein Geld abheben will.

Die FDP fordert mehr Eigenverantwortung in der Pandemie und beim Energiesparen, aber für den Einkaufswagen braucht man Kleingeld und im Pissoir ist ein kleines Tor angebracht. So wird das doch alles nichts, wenn wir uns angetrunken einfach zu einer anderen Gruppe stellen, wenn die lustigen Sprüche aufgebraucht sind.

22.07.2022

An und Abreise dauern fast so lang wie die Bootparty selber. In der Eröffnungs- und Abschlussrede geht es um den Tod, dazwischen wird gegrillt, getanzt und es werden Saltos in den Müggelsee gemacht. Als ich später im Bett die Bilder des Abends durchgehe, denke ich erst ans Abnehmen und Frisuren und erst danach an die Abendsonne, das Gelächter und die Umarmungen. Die Reihenfolge ist nicht schön, aber ehrlich und hiermit zur Kenntnis genommen.

21.07.2022

Das Aufstehen verzögern, weil es kostbare Zeit ist. Um sich daran festzuhalten, fahre ich auch noch zu einem dritten ALDI, weil bei diesem die Schlafsäcke noch nicht ausverkauft sind. Den zweiten gibt es gar nicht mehr.

In der Buchhandlung aus Mitleid wenigstens noch eine zweite Karte kaufen.

Den ersten Kartoffelsalat machen. Mit Mayo, aber vegan und einen Tag vorher, denn er soll noch durchziehen, sagt das Internet. Dann mit Verdauungstee, Gin Tonic und Laptop auf dem Balkon auf die ersten Regentropfen warten.

Dazwischen der Resttag. Sauber sortiert und stilvoll eingerichtet, mit Halskratzen und Bildschirmscham, aber wen kümmern schon die Löcher in den Socken.

20.07.2022

Ich habe da heute im New Yorker so einen langen Artikel über Superjachten gelesen. Über die Schiffe und ihre Besitzer und die Kultur und Probleme drumherum und jetzt habe ich ganz viel Wissen über Superjachten im Kopf. Wo die gebaut werden, wie ihre Besatzung lebt, welchen Zweck sie haben, warum Oligarchen so besessen von ihnen sind und wie sich in den Häfen um die besten Liegeplätze gestritten wird. Dabei sind mir Superjachten egal. Eat the rich und so. Aber eine gute Story ist eine gute Story und als ich den Link anklickte, konnte ich ja noch nicht ahnen, dass ich eine halbe Stunde später in internationalen Gewässern mit Obama und Oprah Steuern sparen würde.

19.07.2022

Im Jahrestarot hatte ich den Gehängten gezogen errechnet. Der Name ist irreführend. Es handelt sich nicht um einen Verurteilten am Galgen, sondern um jemanden, der kopfüber an einem von grünen Blättern bekränzten Balkenkreuz hängt. Seine Hände sind hinter dem Rücken verschränkt. Er ist unfreiwillig zur Passivität gezwungen, und je mehr er sich wehrt und strampelt, desto unbequemer wird ihm seine aussichtslose Lage bewusst. Er muss so lange hängen, bis er die Nutzlosigkeit seines Aufbäumens und die scheinbar hoffnungslose Situation akzeptiert. Erst dann gelangt er zur Erkenntnis und zum Perspektivwechsel, der in manchen Darstellungen als sonnige Aura um seinen Kopf oder mit einem Lächeln dargestellt wird. Das klingt zunächst vielleicht nach „Krise als Chance“, legt aber zu viel Gewicht auf den Aufbruch. Das eigentliche Motto dieser Karte ist „Wehre dich nicht, sondern sieh hin“.

Jetzt habe ich ja eigentlich mit Kartenlegen, Sterndeutungen und Kaffeesatzinterpretationen nicht viel am Hut. Dennoch musste ich dieses Jahr immer wieder an den Gehängten denken. Zwischendurch verängstigt, ob sich solche Prophezeiungen nicht selber erfüllen und ich mich selber in eine Sackgasse manövriere, aber meistens verwundert darüber, wie viel Widerstand nach jeder Kapitulation doch noch in mir lauerte. Ich kenne das vom Yoga. Wenn ich mich in einer Vorbeuge eingerichtet habe und glaube, an meinem Maximum zu sein, kommt ein paar Atemzüge später der Boden doch noch einen Millimeter näher. Loslassen statt Runterziehen.

Stand in einer der Beschreibungen nicht etwas davon, dass sich das Blatt nach der ersten Jahreshälfte wenden würde? Dann wird es aber langsam Zeit. Nein, da verwechsel ich etwas, vielleicht ist das aus dem Jahreshoroskop? Wir waren an dem Abend hungrig nach Zukunftsgewissheit alle Wahrsagungsformen durchgegangen, die wir zur Verfügung hatten. Ungeduld ist auch ein Strampeln, wenn auch für Fortgeschrittene. Dahinter scheint die Akzeptanz, die immer wieder kurz erhascht, kaum anvisiert, schon wieder lächelnd einen Schritt zurücktritt. Die Lösung ist so naheliegend und deshalb das Problem so schwer zu erklären.

18.07.2022

Von unserer Dachterrasse kann ich auf eine ganze Reihe anderer Balkons blicken, aber bewusst sehe ich nur drei. Der eine gehört dem Paar, das den Blumenladen an der Ecke betreibt und die hier schon viele Jahre wohnen. Sie haben es sich zwischen Blumen, Büschen, Sträuchern und sogar zwei kleinen Bäumen bequem gemacht. Direkt daneben hat jemand beim Einzug in die frisch sanierte Eigentumswohnung direkt auch in die Begrünung investiert. Wie Burgzinnen stehen auf der Brüstung riesige Holzkästen mit großen Pflanzen, die an einem Tag plötzlich aufgetaucht sind und seitdem auch nicht mehr aufhören wollen zu blühen. Das sind keine Pflanzen aus dem Baumarkt. Das ist ein in Auftrag gegebenes Gesamtarrangement mit integriertem Blickschutz.

Ähnlich üppig sieht es beim Balkon links von uns im Neubau aus. Ich muss mich über unsere Blumenkästen lehnen, um ihn wirklich zu sehen, und er ist nicht so groß wie unserer oder die von gegenüber, aber so grünbunt und lebendig vollgestellt, dass gerade mal Platz für einen kleinen Tisch und zwei Stühle bleibt. Auch diese Pflanzen waren irgendwann plötzlich da, aber auch hier ist selten jemand zu Hause, um sie zu betrachten.

Diese Balkons sehe ich und nicht die vielen anderen im Hof mit klassischen Balkonblumen, vertrockneten Bemühungen des letzten Jahres oder komplett ohne Bepflanzung. Der Vergleich soll ja wehtun.

Die Ungeduld, wenn die Blumensaat Zuspruch und die Neuzugänge von ALDI gedrückte Daumen brauchen. Der Neid auf große Töpfe und Ausflüge zum Gartencenter. Das Selbsthilfebuch mit Balkonmetaphern über Dankbarkeit, Geduld und falsche Vergleiche schreibt sich von selbst.