Monat: August 2022

24.08.2022

Ich dachte, mir wäre der Friseurtermin wichtig gewesen, weil ich bald auf einer Hochzeit eingeladen bin, aber es lag daran, dass heute die Sommerpause der Therapiegruppe endete. (Der Mystiker auf dem Berg sagt „Mit schönen Haaren kann dir niemand wehtun“ und rasiert sich seine ab.)

Beim betretenen Schweigen der ersten Minuten entdecke ich zwei rötliche Mückenstichüberbleibsel an meinen Armen. Beide haben den exakt gleichen Abstand zu jeweils einer Narbe – etwa einen Daumen breit. Die eine Narbe ist rundlich und stammt von einem Fahrradlenkerunfall. Der Griff war zu dem Zeitpunkt schon eine ganze Weile lose und an einem Regentag flutschte er schließlich vom Lenker, worauf mein Arm automatisch zurückschnellte und sich die scharfe Metallkante in meinen Unterarm bohrte. Die zweite Narbe ist länglich und das Produkt eines heißen Backblechs und einer der Gründe, warum ich in der Gruppe bin. Aus der Verbrennung wurde nämlich nur eine Narbe, weil ich in einer stressigen Situation, in der ich eh schon das Gefühl hatte, mit meinem Hunger zu viel Raum einzunehmen, nicht auch noch durch meine Verletzung die Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte und sie deshalb mit zusammengebissenen Zähnen kleinredete.

Als das Gespräch dann doch Anschluss findet, sprechen wir über schwierige Anfänge und das Warten darauf. Dass Narben auch daran erinnern, dass alles schon angefangen hat, fällt mir erst auf dem Weg nach Hause auf. Die Autokorrektur macht daraus schön.

23.08.2022

Im Drogeriemarkt bin ich heute der einzige Mann, Geschlecht gerettet, ach ne, da ist noch einer bei den Süßigkeiten, denke ich selbstgerecht zwischen Putzmitteln und Staubsaugerbeuteln.

Ich bin in der Mittagspause hergeeilt, weil es die einzige freie Zeit am Tag ist, um in aufmerksamer Voraussicht Vorräte aufzufüllen, bevor sie zur Neige gehen und den emotionalen Frieden der Familie gefährden. Aber das ist natürlich gelogen. Ich bin arbeitslos, kinderlos, habe aus Versehen meinen Gürtel mitgewaschen und bekomme jetzt die Flecken nicht mehr aus dem Hemd.

Auf dem Campingplatz am Wochenende habe ich drei verschieden Varianten des „Meine Frau ist der Boss“-Shirts gesehen. Meine Generation geht mit der Scham über ungerechte Arbeitsaufteilung anders um. An dieser Stelle würde sich das TikTok Video dann wiederholen.

22.08.2022

Gedankenkaskade in Turnschuhen:

  1. Wer kommt eigentlich auf die geschmacksverirrte Idee, sich solche LED Streifen in die Küche zu hängen? Das passiert ja nicht einfach so. Diese Anordnung und vor allem diese Farben hat sich jemand genau so ausgesucht! Das war eine ästhetische Entscheidung!
  2. Zwischen dem letzten und dem nächsten Schritt, zwischen Bewertung und Bedeutung liegt die Freude an den Farben in der Dunkelheit. Wie schön, auch nach Sonnenuntergang noch bunte Lichter sehen zu können. Wie schön, dass sie jemandes Stolz sind. Wie schön nach dem ersten Gedanken noch diesem begegnet zu sein.
  3. Hör auf anekdotenspirituelle Podcasts zu hören und geh mal lieber nach Hause und kümmere dich ums Abendessen. Und denk dran, noch genug zu trinken!
  4. Oh, eine Katze!

21.08.2022

Heute habe ich noch vor dem Frühstück ein Käserad zerteilt. Ich habe mich etwas ungeschickt angestellt, war mit dem Werkzeug noch nicht sonderlich vertraut und die Publikumssituation machte dieses erste Mal natürlich nicht gerade einfacher, da ich einen gewissen patriarchalen Leistungsdruck im Umgang mit dem Käsemesser nicht abstreiten kann, aber beim Biss in ihr Brötchen schienen alle Beteiligten befriedigt.

20.08.2022

Mein Rucksack muss in den letzten Tagen wohl länger auf einem feuchten Untergrund gestanden haben. Das für die Hochzeit eingepackte Hemd ist nicht nur klamm, sondern hat auch gelbe Stockflecken bekommen. Mein einziges sauberes und unverschwitztes Oberteil ist das Hemd, das ich am Morgen geschenkt bekommen habe. Es ist kurzärmlig, aus Seide, hat ein Ethnomuster und einen tiefen Ausschnitt, aber in der Einladung stand „tragt, worin ihr euch wohlfühlt“. Über das Wohlfühlen bin ich mir unsicher, aber nach einem besonderen Anlass sieht es auf jeden Fall aus.

Am Nachmittag wird ein Gruppenfoto gemacht, und zwar als Silberfotografie, was besonders kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder produziert und wir müssen alle zehn Sekunden stillhalten, um nicht als verschwommene Geister verewigt zu werden. Auf dem fertigen Bild steche ich heraus, wie ein Sektenführer in einer True Crime Doku, auf den langsam in Archivmaterial herangezoomt wird. Danach kommt ein Interview mit einem Zeitzeugen und danach Bilder von Schlagzeilen aus den regionalen Zeitungen. Hätte man zu diesem Zeitpunkt schon ahnen können oder müssen, wohin das außer auf die Tanzfläche noch alles führen würde? Es folgt ein Statement von einem Experten für schottischen Whisky.

19.08.2022

Fährten lesen im Regen mit Fernglas und Pflanzenbestimmungs-App. (Im Nationalpark gibt es Netz, auf dem Campingplatz nicht.)

Das ist eine Schwarzpappel.
Das sind Kraniche Kormorane.
Hier ist seit dem letzten Schauer ein Fahrrad durchgekommen.
Hier könnten wir das Zelt aufbauen.
Und hier zeigt sich mal wieder, warum Lawinenopfern Alkohol gegeben wurde.
Sobald sich Wetter aufdrängt, ist es Stress.

18.08.2022

Der einzige freie Sitzplatz im Zug Richtung Mecklenburgische Seenplatte ist gegenüber vom Snackautomaten. Zwei Stunden Sommerferienlärm mit einem Haufen Gepäck und der Klimaanlage im Nacken und dabei Ausblick auf die extra langen Twix. Na toll, denke ich und zähle innerlich schon mein Kleingeld.

Aber ich bleibe stark, selbst als der Streit der Geschwisterkinder neben mir in die zweite Halbzeit geht. Und auch, als ich in der Unterkunft auf dem Campingplatz eine Waage entdecke.

„Spatz, wie viel hast du dich denn heute schon entspannt?“
„Zwei Kilo.“
„Ach toll! Gut, dass wir doch wieder hierher gekommen sind. Hier lässt es sich doch am besten loslassen, nich?“
„Doch doch.“