Schau, das ist der Boden, das sind die Felder und das die Ruinen und Neubaugebiete, aus denen ich gewachsen bin.
Jahr: 2022
03.06.2022
Das Vernissage-Problem heute bei einer Video-Installation: Wenn ich da stehe oder sitze und in dem Video vor mir eine aus ihrer Familiengeschichte erzählt, es drei, vier Bildschirme weiter links aber hektisch flucht und klirrt, muss ich vor dem neugierigen Platzwechsel erstmal kontrollieren, ob nicht die Person aus dem Video neben mir steht. Ach, ich bin mal wieder nicht laut und aufregend genug, oder was?, höre ich dann und versuche zum Treuebeweis besonders aufmerksam auf das Video zu schauen, auf das ich schon die ganze Zeit starre. Das ermüdet natürlich, fällt unter der Maske aber gar nicht so sehr auf. Um das zu merken, müsste man mich schon aufmerksam beobachten, und warum sollte das hier irgendwer tun.
02.06.2022
Ein alter Mann surrt auf seinem Mobility Scooter gemächlich durch die Abendsonne und seine Zigarette schwebt lässig über seiner Hand, als wäre das Elektromobil ein Sportwagen und der Parkweg die Einfahrt eines Luxushotels an der Côte d’Azur. Völlig unangemessen von mir hier mit Fahrradhelm und Satteltasche durchzukreuzen.
01.06.2022
Erste Sitzung Gruppe der Gruppentherapie: „Hallo, ich bin Freerk (eff er doppel-e er ka bla ba) und mein Thema ist, dass es mir schwerfällt, mich auf so ein Themenlabel einzulassen, weil ich nicht darauf reduziert werden will, außerdem habt ihr euch das Vertrauen Entspannung für unsicheres und öffnendes Reden noch gar nicht verdient, also chillt mal – so sagen das wir jungen Leute mit Geheimratsecken.“
31.05.2022
In Leipzig machen alle Human Design, hatte T erzählt, was das Internet als „ganzheitliches Selbsterkenntnissystem“ beschreibt, das die „individuelle energetische DNA wie einen Bauplan darlegt“ und aus dem Ort und Zeit der Geburt berechnet wird. Aha. Schon klar. Den Schritt von der Astrologie zu Energiebahnen im Körper verstehe ich dabei nicht ganz, aber ich weiß, wann und wo ich geboren wurde und wie man Textfelder im Internet ausfüllt, darum habe ich schnell auch ein PDF mit so einem Bauplan auf meinem Desktop und dann noch einen anderes, nur um die beiden Bilder und Zahlen miteinander zu vergleichen. So skeptisch bin ich bei aller Neugier dann doch. Für eine ausführliche und persönliche Interpretation müsste ich jetzt 50 – 75 Dollar zahlen, darum belasse ich es bei der Vorschau. Die sagt, ich solle mehr auf meinen Bauch hören. Das trifft sich, denn ich stehe gerade zufällig vor einer Entscheidung: Airbnb oder Campingplatz? Eine Hütte mit Sofa, Veranda und Kamin oder ein Zelt direkt am See? Neun oder neunzig Euro die Nacht? Und ja, es stimmt, mein Bauch weiß ganz genau, was ich will und wofür ich mich schäme.
30.05.2022
„When we consider it our job to do better than we can do, than you don’t do anything, because you’re waiting for you to come up with something you don’t come up with.“, sagt Dan Harmon und ich überlege, was das für Podcasts und Kunst bedeutet, weil ich viel an dem Essay im Deutschlandfunk zu kritisieren hatte, aber auch schön fand, meiner anderen Meinung mal ausnahmsweise so sicher zu sein. Jedenfalls überlegte ich, was das für mich bedeuten würde, wenn ich Podcastkunst machen würde. Nicht Radio- oder Klangkunst zum Download, sondern Kunst mit den Mitteln und unter den Bedingungen des Mediums, so wie ich es verstehe. Aber dann will ich auch noch waschen und Abendessen machen und gehe doch wieder in die Falle, weil es sich nicht wie Warten anfühlt, sondern wie Handeln.
29.05.2022
Auf einem Schaffell eingeschlafen und neben einem Ofen aufgewacht. Das stimmt nicht ganz, aber ohne die Szene, in der ich im Nebenraum müde in und aus dem Schlafsack krieche und mir den Kopf an der niedrigen Tür stoße, gefällt mir das Bild deutlich besser.
In der Küche finde ihr mehrere Beutel meines Lieblingsschwarztees, also lege ich Holz nach, koche Wasser und schreibe schnell alles auf, solange die anderen noch schlafen und die Ereignisse noch nicht auf ihren Wahrheitsgehalt pochen.
Und dann vielleicht doch noch in den See? Wo nichts los ist, sieht auch niemand, wie lange ich brauche, um ins Wasser zu gehen. Das ist nach dem vielen Regen der letzten Tage dann nämlich doch sehr kalt. Auch nach der zweiten Runde noch und so bin ich bei den letzten Zügen vor dem Steg in Gedanken schon längst wieder beim Ofen. (Und bei J.)