02.10.2022

Ich errichte eine Torte. Stahlbeton hat eine sehr schlechte Umweltbilanz, habe ich von den Architects for Future gelernt, also nehme ich für mein Gerüst steif geschlagenes Eiweiß mit gemahlenen Mandeln und ziehe eine Buttercremeschicht ein, damit sofort klar wird, dass es hier um Eigentum, nicht um Miete geht. Um Geld zu sparen, kommt die dann auch aufs Dach und an die Fassade, so muss ich nur einmal den Mixer abwaschen. In der Broschüre heißt das dann nachhaltig und ressourcenschonend. Das gilt auch für die Deko. Geröstete Mandelblättchen sind zur Dämmung eigentlich nicht geeignet, aber lenken sehr gut von ungleichmäßig verputzen Wänden ab. Bei einer 24 cm Springform ergibt das am Ende umgerechnet einen Quadratmeterpreis von 575 Euro. Bei der Version aus dem Tiefkühlfach wären es nur 110 Euro, aber Eier aus der Region und der Name des Architekten haben eben ihren Preis.

01.10.2022

frei, froh und fromm steht unter dem Dach der alten Turnhalle die Straße runter. Ich fühle mich heute weder noch, bin aber auch nicht in der Halle. Vielleicht ist es als Werbeversprechen zu verstehen. Beim Turnvater hieß es vollständig noch „frisch, fromm, fröhlich, frei“. Fromm übrigens nicht religiös gemeint, sondern wie tüchtig oder fleißig. Das war Jahn wohl immer wichtig zu betonen, und auch gegen eine Umstellung der Worte hatte er sich laut Wikipedia immer gewehrt. Auch gegen die Verkürzung von fröhlich zu froh. Umso mehr verwundert mich, dass das frisch hier zu fehlen scheint. Vielleicht habe ich es auch nur übersehen, aber ich glaube lieber an Absicht. Laut Landesdenkmalamt ist dies eine der letzten Schulen, die Stadtbaurat Hermann Blankenstein in den 1890ern baute. In einer Zeitung von 1900 heißt es: „Architektonisch wurde an den Blankensteinschen Bauten wenig gewagt, dieselben Gedanken und Formen gingen von einem Bau zum andern über, es erscheint nichts aufdringlich und verletzend an ihnen, sie führen ein bescheidenes und still zurückhaltendes Dasein.“ Vielleicht war dies also sein letztes aufbegehren? Vielleicht fühlte er sich einfach nicht mehr besonders frisch und ließ es deshalb aus? Oder war es eine persönliche Fehde mit der Turnbewegung? War es nicht. Weiter unten im Text über das Gebäude steht, dass ich das frisch wirklich übersehen haben muss, aber das passt auch, frisch fühle ich mich heute am allerwenigsten.

30.09.2022

Unsere Bühne ist ein mit einem Bettlaken abgehangenes Laufband. Der Preis ist aus der Geschenktüte eines Ladens für Periodenunterwäsche. Die Texte stammen aus dem Archiv oder sind zwei Minuten vor Beginn fertig geworden. Einer wird selber vorgelesen, der zweite anonym aus einem Hut gezogen. Es gibt genug Knabberzeug, um die Ritzen des Sofas zu füllen und um Mitternacht Geburtstagssekt. In der Raucherpause läuft deutscher Hip-Hop der Jahrtausendwende. Wir nennen es VorLeseZirkel.

29.09.2022

Ich wühle in alten Texten von mir, weil ich zum Vorlesen einen mit besonders hohem Cringefaktor suche. Anfang der 2010er habe ich mal einen Ordner mit alten Word Dokumente in Google Drive gezogen. Sicherheitshalber. Da liegen sie nun und die meisten von ihnen sind bedrückend, voller Sinnsuchemetaphern und Pathos, den ich im Gegensatz zu meinen handschriftlichen Notizen aus der Zeit nicht zu entziffern brauche und sogar nach Stichwörtern durchsuchen kann. Google kann das auch. Seitdem ich letztens bei einem Geburtstag auf einer neuen Couch saß, bekomme ich auf Instagram jeden Tag Werbung für diese Couch angezeigt. Dabei hatte ich gar nicht nach ihr gesucht, sondern andere Personen, die auch im Raum waren, die aber in meinem Adressbuch stehen. Das reicht schon, um mich zuzuordnen. Jetzt bin ich gespannt, wie diese Dokumente meine Werbeanzeigen verändern. Was bekommt man heute als latent depressiver Teenager empfohlen? Vielleicht etwas für mein Fitness-Business oder Infomaterial von der identitären Bewegung. Irgendwas mit Streichern im Hintergrund.

28.09.2022

Mit der Klimakrise wird auch mein wackeliges Vertrauen in eine mir liebevoll zugewandte Welt angegriffen. Das romantisch überfrachtete Ideal des Gartens Eden steckt tiefer in mir, als ich es mir eingestehe, denn trotz aller Wüsten, Gifte und Vulkane denke ich an die Erde als einen mir stets wohlwollenden Nährboden, dessen Wunder es zu entdecken und zu bewahren gilt. Was theoretisch schon lange eingerissen war, bröckelt praktisch. Wer eh schon depressiv ist, verkraftet das besser. Nach Jahrhunderten der internalisierten Ausbeutung erlebe ich einen anderen Planeten, der nicht mit dem in mir zusammen passt, einem, dem das Leben abgerungen und gegen das es verteidigt werden muss. Was vorher nur Trauer um den Verlust des inneren Bildes war, wird im entstandenen Loch zur Angst vor der Rache der Außenwelt.

27.09.2022

Nach dem Einkaufen weist mich das Ende des Regenbogens zurück an den Ort, an dem sich das WLAN automatisch verbindet und sich meine Einkaufsliste zufrieden mit den anderen synchronisiert. Da, wo die alten Dielen Löcher in die Socken zwicken und die Mikrowelle gefährliche Geräusche von sich gibt.

Zu Hause begrüßt mich laute Putzmusik. Der Inhalt des Kühlschranks ausgebreitet auf dem Balkontisch und glitzert in der Sonne. Mein Topf voll Gold ist also eine Sammlung angebrochener Soßen und Aufstriche und eine Kiste mit Gemüse. Das stimmt ja auch irgendwie.

Als ich meine Einkäufe dazustelle, verdunkelt eine Wolke wieder den Himmel und aus dem Schatz vor mir wird ein Hort. Ein bisschen enttäuschend, dass alles auf den Tisch passt, denke ich. Im Kühlschrank sieht das sonst nach mehr aus.

26.09.2022

Es ist ein Bildschirmnackentag, was bedeutet, dass heute das oberste Ziel ist, den Spalt zwischen Augenbrauen und Gerät zu schließen. Eigentlich eine typische Schutzbrillensitzhaltung, nur dass keine Funken fliegen, sondern mittelmäßig interessante und eher schlecht definierte Aufgaben ohne Belohnung. In Kombination mit einem Fenstertunnelblick für den konzentrierten Fokus an den eigentlich relevanten Tabs im Browser vorbei und mit einem gut trainierten Scrollfinger ist so ein Tag äußerst effektiv in der Produktion von hartnäckigen Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich. Und weil es so kurz vor dem Mittagessen ja dann eh nicht mehr lohnt anzufangen, schaue ich mir noch eine halbe Stunde Videos mit Rückenübungen an. Für später.