27.10.2022

Wieder ein Tag, an dem sich Menschen an die Glasscheiben vor berühmten Gemälden geklebt haben. Das finde ich super, twittere es aber lieber nicht, weil ich meine gute Laune nicht gefährden will. Dass die Aktivist:innen die Bilder nicht beschädigen, geht in der Berichterstattung oft unter, in den Kommentarspalten sowieso und selbst wenn sie beschädigt werden, denke ich, dann ist das ja wenigstens mal eine Herausforderung für die Restaurator:innen, aber ich führe den Satz dann doch lieber nicht weiter, denn wie gesagt, noch habe ich gute Laune. Glas ist eben durchsichtig. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich sogar um sorgfältig poliertes und entspiegeltes Glas. Das ist auf Fotos natürlich schwer zu entdecken. Genau wie der Vogel des Jahres. Vom Braunkehlchen gibt es zwar schöne Bilder, aber in der Natur ist es immer seltener zu finde. Das liegt nicht nur an seiner Tarnfarbe, sondern vor allem am Menschen, genauer gesagt an der Landwirtschaft und den trocken gelegten Lebensräumen des Braunkehlchens. Ich hatte ja für das Teichhuhn gestimmt. Nur damit beides mal festgehalten ist.

26.10.2022

Kaum zehn Minuten auf dem Tempelhofer Feld und schon passiert wieder alles gleichzeitig, dabei will ich nur kurz in der Sonne sitzen. Links von mir eine Sportgruppe, rechts ein Unfall mit E-Scooter und ein Vater, der entschieden hat, dass heute der Tag ist, an dem er seinem Sohn im Kindergartenalter den Unterschied zwischen dem gleichen und demselben Krankenwagen beibringen muss. Dass er deren auftauchen mit „Oh, jetzt gibt es etwas zu sehen“ kommentiert, während er seine dritte Zigarette dreht, macht ihn nicht unbedingt sympathischer, wobei so ein Krankenwagen für ein Kind natürlich sehr aufregend ist, da muss ich ihm recht geben. Noch aufregender wäre es nur gewesen, wenn der eine Krankenwagen von einem Bagger über den Zaun gehoben und der andere von einem Hubschrauber abgesetzt worden wäre, aber so denken dann doch nur Erwachsene. Ein junger Amerikaner spricht mich an und fragt, ob er mich fotografieren darf. Ich kapituliere und werde Teil der Szene. Einfach nur in der Sonne zu sitzen reicht nicht, man muss es auch überzeugend aussehen lassen können.

25.10.2022

Bewerbungsgespräch mit Blick auf ein abstraktes Dschungelgemälde. Ich spiele nervös an meiner Machete herum, weil ich genügend Naturfilme gesehen habe, um zu wissen, was im Unterholz lauert und verstecke die Hände schnell unter dem Tisch, als ich einen Blutstropfen an einem meiner Finger entdecke. Ich will einen Eindruck hinterlassen und keine Flecken. Die finde ich dafür später auf meiner Hose. Bei dieser Stelle wäre zwar Einsatz gefordert, aber möglichst ohne Handgreiflichkeiten und Verletzte. Bei Netzwerken denke ich vor diesem Bild an Wurzeln, Pilze und Ameisenstraßen. Bunte Flecken deuten Vögel und Schmetterlinge an. Mit denen wäre ich gerne besser bekannt. Tut mir leid, ich habe gleich noch einen Termin mit einem Tukan zur Unterholzstrategieplanung drüben bei der Boquila trifoliolata. Das ist eine Pflanze, die in der Lage ist, mit ihren Blättern das Aussehen der sie umgebenden Blätter anderer Pflanzen nachzuahmen. Das hat ihn überzeugt zu kommen, ich konnte es erst selber nicht glauben.

24.10.2022

Auf dieser Folie sehen sie eine Visualisierung der letzten Jahre, wann und zu welchem Preis die Zugtickets für den Heimatbesuch an Weihnachten gekauft wurden. Für die letzten zehn Jahre konnten wir zudem auswerten, wann das Thema zum ersten Mal in Nachrichten erwähnt wurde, wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass die Frage schon an vorherigen Tagen in Telefongesprächen aufgekommen ist. Aber der Trend wird sofort ersichtlich. In den letzten Jahren sehen wir nicht nur einen Anstieg der Ticketpreise, obwohl die Tickets in der Tendenz immer früher gebucht werden, sondern auch, dass das Thema mitunter bereits im Spätsommer aufkommt. Der Befund ist eindeutig. Etwa Mitte der 2030er-Jahre werden nach unseren Berechnungen die Tickets bereits vor Neujahr gekauft werden und ungefähr so viel kosten wie ein Flug nach New York heute. Die Absprachen dafür fallen dann praktischerweise mit den Feiertagen zusammen.

23.10.2022

Seitdem ich einen Podcast über paranormale Begegnungen gehört habe, verstehe ich die Faszination an True Crime besser. Wenn ich nachts durch den Park laufe, habe ich jetzt keine Angst vor Männern, die aus dem Gebüsch springen, aber vor rastlosen Seelen, die Besitz von mir ergreifen, weil sie noch unvollendete Aufgaben in dieser Welt haben oder von den dämonischen Kräften angezogen werden, die an meinen Ohrringen aus dem Antiquitätengeschäft haften.

22.10.2022

Als der Bus am großen Stern vorbeikommt, sind es noch fast zwei Stunden bis zum Start der Demo, aber trotzdem haben sich bereits mehrere tausend Menschen versammelt. In den umliegenden Straßen stehen Reisebusse aus ganz Deutschland, iranische Flaggen werden geschwenkt und junge Frauen bemalen sich ihre Gesichter. Bei der nächsten Haltestelle steigt der halbe Bus aus, aber ich muss weiter. Keine Ahnung, warum ich so sehr weinen muss. Zu viel Schmerz und Hoffnung in der Luft.

21.10.2022

Früher hätte ich ja nie das Hemd in die Hose gesteckt, weil es sich so unauthentisch angefühlt hätte und auch heute fühlt es sich noch nach Verkleidung an, aber das Gefühl, warum und für wen ich es tue, ist mir heute echt genug und wenn das Outfit in sich stimmig ist, dann stimmt doch schon mal etwas und der Rest reiht sich im Takt der Sektkorken am Buffet ein.