Monat: Juni 2021

09.06.2021

Die japanische Friseurin spricht Englisch und ich spreche Englisch, nur leider nicht das Gleiche. Trotzdem einigen wir uns auf eine Frisur und ich bin ganz froh, mich nicht unterhalten zu müssen, der neue Ort, die laute Musik, die fremden Menschen an meinem Kopf und um mich herum reichen mir schon als Aufregung.

Auf dem Platz neben mir will die Kundin unbedingt die Meinung der Stylistin oder ihre Freundin werden, so genau lässt sich das nicht beurteilen. Als die dann wiederum versucht mit ihrer Freundschaft zu Martha van Straaten anzugeben, zuckt die Kundin mit den Schultern: „Well, there are so many DJs in Berlin…“ – So wird das nichts.

08.06.2021

Es gibt Stadt-, Haus- und Straßentauben, alles Nachfahren der Felsentaube und es gibt noch viele mehr, die mich aber gerade nicht so interessieren, weil sie mich nicht jeden Tag vor ein Rätsel stellen. Tauben leben in Schwärmen, aber auch in lebenslanger Monogamie oder monogamen Saisonehen und sie verteidigen ihr partnerschaftliches Hofrevier mit Gewalt, je nachdem welchen Wikipediaartikel ich dazu lese, ändert sich mein Bild dieser Tiere, aber sind es wirklich dieselben Tiere, die hier turtelnd im Baum sitzen und die in Gruppen über den Alexanderplatz flattern? Ich habe noch nie gesehen, wie sich unsere Hoftauben auf dem Weg zur Arbeit einem Schwarm anschließen und genauso wenig wie eine Taube aus dem Werksbus aussteigt, um in ihr Einfamilienhaus zurückzukehren.

07.06.2021

Ein Gespenst geht um in Europa und trotzdem sollte ich nicht versuchen, den protestantischen Arbeitsethos auszutreiben. Nicht nur, weil es viel zu gewalttätig ist und mir Brutalität nicht steht. Wirklich los werde ich das alte Erbstück eh nie ganz, und je mehr ich darauf einschlage, desto mehr schäme mich für die hinterlassenen Spuren und dann ist das Gespenst noch viel präsenter, als wenn ich es ignoriert hätte.

Den protestantischen Arbeitsethos bei Bedarf liebevoll aber bestimmt bitten aus dem Weg zu gehen, klingt natürlich viel unspektakulärer und auch irgendwie nicht nach echter Arbeit, aber das ist die Falle: Sich arrangieren und behaupten kommt ohne Scheiterhaufen und Fackelmarsch. Fertig bin ich eben nicht, wenn’s wehtut, sondern wenn es sich stimmig anfühlt; ohne fremde Autorität, ohne warten auf eine Freigabe und ohne eingebautes Aber.

Außerdem: Ganz loswerden will es ja auch nicht. Es war ja nicht alles schlimm im Kommunismus.

06.06.2021

Aus Autos- werden Fahrradbahnen. Wenn mehr als 15 Personen nacheinander miteinander fahren, dann ist es ein Konvoi und das Ende darf noch über die rote Ampel fahren, wenn der Anfang die Kreuzung bereits passiert hat.

Kurz hinter der Abfahrt, über die die Demo wieder in die Stadt geleitet wird, hat sich die Polizei mit zwei Mannschaftswagen, Flatterband und Radsperren positioniert, damit auch bloß niemand übermütig auf die Idee kommt, bis nach Hamburg weiterzufahren. Es ist sehr verlockend.

05.06.2021

Meine Brille ist wie ich, oder ich bin wie sie, oder man merkt, dass es meine Brille ist. Was ich sagen will: Ich erkenne mich auch ohne sie und ohne Spiegel in ihr wieder.

Kaum habe ich die neue Sonnenbrille, kaum hat meine normale Brille ein paar Stunden (wenn’s gut läuft sogar Tage) Pause, kaum bin ich nicht mehr zwingend auf sie angewiesen, beginnt sich auch schon die Beschichtung aufzulösen und die Kratzer der vergangenen Jahre scheinen wie vom Frost aufgesprengt zu wachsen.

Natürlich mag das nur der Kontrast sein, plötzlich nicht mehr durch Milchglas in die Welt zu schauen, der das Auge auf diese alten neuen Makel lenkt, aber eigentlich nehme ich diese Charakterschwäche sehr persönlich.

04.06.2021

Endlich muss man sich wieder Gedanken darüber machen, ob die Musik zu laut ist, wenn man nach dem Essen auf dem Balkon hängen bleibt. Endlich wieder Teelichter.

03.06.2021

Wenn ich nach dem Essen auf dem Küchensofa sitze und durch YouTube/Instagram/TikTok/Twitch scrolle füllt sich normalerweise langsam ein kleiner Selbstverachtungstank, der irgendwann kippt und dann den Schwung zum Aufstehen bereitstellt. Das System ist nicht nachhaltig, aber funktioniert und ist historisch gewachsen.

Interessant ist, dass der Kippmoment des Tanks vollkommen unabhängig vom Füllvolumen ist. Vielleicht ist auch die Tankgröße oder der Zufluss nicht konstant (an dieser Stelle entgleitet mir die Metapher) aber auf jeden Falls überrascht mich mein Aufstehen in der Regel selber.

Interessant ist, dass ich, immer noch mit Paracetamol ruhig gestellt, problemlos vier Stunden so auf dem Sofa sitzen kann, ohne mich zu bewegen und dann nur aufstehen, weil es Zeit ist, etwas zu essen zu machen.