Tunke dein Gesicht in das Latex, wie die Madeleine in den Tee. Wenn du anfängst, dich aufzulösen, dann führe ich dich zum Mund. Haut an Haut an Haut. Gesichert durch die Körperknirschschiene, gehalten ohne Abrieb und Eile. Wer die Suche nach der verlorenen Zeit in 1,5-facher Geschwindigkeit hört, hat sie eh schon fast gefunden. Das kleine Obstmesser ist nach ein paar Monaten auch wieder aufgetaucht, dabei hatten wir es im Biomüll verloren geglaubt. Keine Angst.
Jahr: 2023
04.04.2023
Wenn sie unzufrieden sind, dann bestellen sich manche Menschen im Internet Klamotten oder Schuhe. Manche auch Dekoartikel, Pflanzen, Schmuck oder Elektrospielzeug. Ich bestelle mir Gedichtbände und Proteinpulver. Klarna und PayPal kümmern sich. Nur immer mitten in die Lücke rein.
03.04.2023
Ein belgischer Mann bringt sich um, nachdem er mehrere Wochen mit einem Chatbot über seine Klimaängste spricht. Das sind die Schlagzeilen, die funktionieren. Liebe ist auch eine Form der Selbstradikalisierung, aber an die denken wir nicht, wenn es um die ca. 40 Prozent der Jobs geht, die aus dem Homeoffice erledigt werden können und von denen die Mehrheit wegautomatisiert werden wird. Nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen, aber die Woche darauf. How To Protect Your Career From AI steht über einem Artikel. It’s time to exorcise the expected steht unter einem anderen.
02.04.2023
Der Taxifahrer behauptet, dass er heimlich Schlager hört, wenn er allein im Auto sitzt, immer weggelaufen ist, wenn seine Mutter früher Falafel gemacht hat und dass er kein Techno mag, aber auch, dass er den Geschäftsführer vom Kater Blau kennt und deshalb an der Schlange vorbei in den VIP-Bereich kommt, wo dann eine „große Flasche“ an einem Tisch auf ihr wartet.
Da können wir natürlich nicht mithalten und bleiben einfach bei der Wahrheit: Nach anfänglicher Euphorie und einer spontanen Modeshow hatten wir dann doch keine Lust mehr, die letzten Stunden vor dem Sonnenaufgang im Nieselregen zu stehen.
01.04.2023
Als du am Kotti nochmal an mir vorbeifährst und sich unsere Augen treffen, ist da etwas Qualvolles, Verunsichertes und Sehnsüchtiges in deinem Blick,
als hätten wir gerade zusammen einen großen Kredit aufgenommen, um uns ein neues Leben auf einem anderen Kontinent aufzubauen, aber auch als könne ich erst in einigen Monaten nachkommen. Oder als hätten wir gerade zusammen beschlossen, unsere Katze einzuschläfern, um sie von den Schmerzen zu erlösen, die sie jetzt im hohen Alter erleiden muss, und als würden wir uns genau in dem Moment, in dem ihr Herz zu schlagen aufhört, beide an unsere ersten Tage mit ihr erinnern und an alles Schöne und Schreckliche, was wir seitdem miteinander erlebt haben, aber auch daran, dass die Reise von dir und mir bei aller Endlichkeit der Welt jetzt noch nicht vorbei ist. Und eigentlich will ich doch einfach nur, dass du jetzt nicht zum nächsten Termin fährst. Ich will mit dir liegen und atmen.
31.03.2023
„Hast du schon eine Location für deinen Geburtstag?“
„Nee, ich nehme mir auch schon seit Tagen vor, endlich mal bei dem Laden hier um die Ecke anzurufen, aber bei Google Maps steht da nur eine Handynummer und das macht es irgendwie noch viel schwieriger.“
„Wenn ich mich nicht traue, irgendwo anzurufen (was ich bei dir eh nicht verstehe, wie kannst du einerseits spontan eine Veranstaltung moderieren und andererseits ein kurzes formloses Telefonat so viele Tage aufschieben), dann suche ich aktiv nach schlimmen Nachrichten. Seuchen, Erdbeben, Zugunglücke und Massenentführungen. Sowas. Davon lese ich dann mehrere Meldungen, klicke mich durch die Bildergalerien mit entsetzten Gesichtern der Angehörigen und Ersthelfern und danach geht das meistens ganz gut. Klingt brutal, aber so eine Sache wie einen Termin zu machen, rutscht dann ins Verhältnis.“
Einen eingestürzten Brunnen mit 36 Toten in Indien, ein gefährdetes ukrainisches Atomkraftwerk und einen Femizid in Brandenburg später wähle ich die Nummer.
30.03.2023
Bis zum Gewitter sitzen auf dem Spielplatz gegenüber vom Büro mehrere Teenager oder Jugendliche, auf die Entfernung ist das nicht so genau zu sagen, und warten geduldig, dass sie an der Reihe sind. Einer von ihnen hat nämlich eine Haarschneidemaschine und ein großes Handtuch dabei. Ich bin versucht rüberzugehen und zu fragen, wie viel er für einen Haarschnitt nimmt. Nicht das ich selber Interesse hätte, meine Haare haben keine Maschinenlänge, sondern einzig und allein um ein Gefühl für den Markt zu bekommen, in dem er sich mit deiner Maschine behauptet; für die Gefälligkeiten, die ausgetauscht werden und ihren Wert und für die Gespräche, die dabei auf den Bänken zwischen Drehscheibe und Schaukel geführt werden.