Schwindeltrauma! (Leicht dramatisiert für die Spannung [und die Aufmerksamkeit], aber dann die Spannung nicht ausgehalten [und die Aufmerksamkeit nicht bekommen], die zarte [arme] Seele.)
Jahr: 2019
04.11.2019
Der Raum der Egaligkeiten war voller Träume. Manche klebrig, die meisten in hellgrün. Die wichtigsten politischen Reden der Gegenwart wurden nicht mehr von Komikern gehalten, weil mittlerweile alle verstanden hatten, dass mit dem Ende der Massenmedien auch das Ende der Fassaden eingeläutet worden war. Das befreite und roch angenehm nach frischer gepflückter Minze. Handlung ohne Konflikt war kein Widerspruch mehr. Zumindest für wenige Minuten.
03.11.2019
Ich muss 3000 Kilo Second Hand Koks in Wärmflaschen über die Grenze schmuggeln. Wenn der Grenzbeamte (BREXIT!) fragt, wofür ich die ganzen Wärmflaschen brauche, zeige ich ihm ein Bild meiner Katze und erzähle ihm vom kalkhaltigen Wasser in Berlin. Die Wärmflaschen gab es im Angebot und ich glaube nicht an Plastikverpackungen. Glas oder Metal wäre zu schwer. Er nickt verständnisvoll und reicht mir einen Tee.
02.11.2019
Müde Wut ist die Wut, in die ich mich hineinsteigere, wenn ich an meinen eigenen Ansprüchen scheitere; wenn ich mir keine Langeweile oder Müdigkeit erlaube, aber es trotzdem nicht schaffe mich aufzuraffen, um zu Schaffen; wenn die echten und eingebildeten Zwänge wegfallen und nur noch die eigenen Erwartungen übrig bleiben. Der eigentliche Tag zählt nicht. Wie ein Traum, der nach dem Aufwachen schon vergessen ist. Es gilt nur die Liste im Kopf. Egal wie schön oder produktiv oder warum Dinge verschoben oder weggelassen wurden. Du solltest und hast nicht. Und überhaupt. So beginnt der Abstieg.
Darum das Gegenprogramm: Liebes Tagebuch, heute habe ich in der Bibliothek spannende Texte zu einem Thema gelesen, über das ich heute gleich zweimal mit Menschen reden durfte, die ich sehr gerne habe und die mich inspirieren. Einen davon habe ich schon länger nicht mehr gesehen, was besonders schön war. Aus guter Laune habe ich dann mein Erspartes in Baklava und Gin verprasst. Aber bevor ich das anrühre, muss ich erst mal noch etwas mit dem Händen machen, um vom Kopf wieder in den Körper zu rutschen. Für die anderen kochen zum Beispiel. Ich verzeihe dir, dein F.
01.11.2019
Körper → Kamera + Bildschirm → Körper
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Körper → Mikrofon + Lautsprecher/Kopfhörer → Körper
UND
Zimmerausschnitt + Zimmerausschnitt
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Raumklang + Raumklang
ABER
Live Broadcast
>
Live Recording
31.10.2019
Drei Überwindungen, etwa so groß wie ein mittleres Hochgebirge mit abschmelzenden Gletschern, bei vergleichbaren Außentemperaturen trotz Sonnenschein:
1. Schreibend um Hilfe fragen.
Das Schwierige ist sprachlich die richtige Mischung aus Coolness und Dringlichkeit zu treffen. Es muss locker klingen (eigentlich brauche ich ja keine Hilfe), aber trotzdem bemüht (bitte warte mit deiner Antwort nicht zu lange). Dazu zur Auflockerung noch ein paar selbst abwertende Scherze, mit denen die Peinlichkeit einfach auf die Metaebene gehoben wird und am Schluss noch ein paar Emojis. Der Affe, der sich die Augen zuhält, und ein breites Lachen. Namen austauschen und zur Sicherheit an zwei Personen schicken.
2. Anrufen.
Nummer suchen. Tee kochen. Fragen aufschreiben. Auf Klo gehen. Prüfungsordnung erneut durchlesen und anstreichen. Fragen kontrollieren. Durch Twitter scrollen. Nochmal die Nummer suchen. Handy auf den Tisch legen. YouTube öffnen. […] Verhaspeln. Abhaken. Auflegen. Menschen umarmen.
3. Doch noch die Turnhalle betreten.
Ich saß mal im Umkleideraum der Sporthalle meiner Grundschule, vielleicht am Beginn eines neuen Schuljahrs, oder beim Probetraining einer Sportart, die ich ausprobieren sollte. Ich weiß nicht, ob ich zu spät war, es sich einfach so ergab, oder ob ich es drauf angelegt hatte, aber ich weiß noch wie ich als letzter in der Umkleidekabine saß und es nicht mehr geschafft habe die Halle zu betreten. Der neue, der die Klasse betritt, braucht nur ein paar Schritte bis zu einem Tisch, aber so eine Sporthalle ist riesig. Besonders für einen kleinen unsportlichen Jungen. Je länger ich wartete, desto unmöglicher wurde es mir die Halle zu betreten. Am erschöpften Ende der Verzweiflung entschloss ich mich dazu, so zu tun, als ob ich eingeschlafen wäre. Weil niemand kam, um nach mir zu sehen, waren es andere Kinder, die mich so fanden, und ich meine mich zu erinnern, dass sie die Ausrede zwar nicht besonders glaubwürdig fanden, aber dann auch schnell wieder vergessen hatten.
Diese Umkleiden haben nichts miteinander zu tun. Ich erinnere mich an dunkle Fliesen und an Bänke aus Metal und Holz. Im Sportzentrum der Uni gibt es keine Fenster, aber alles ist trotzdem heller, die Bänke sind aus Kunststoff und es riecht nach Duschgel. Ich habe keinen Grund zu warten. Ich könnte einfach wieder nach Hause fahren und es würde niemanden interessieren. Trotzdem sitze ich da und starre die Wand an und überlege, wie sich diese Bänke wohl am Hinterkopf anfühlen. Aber im Gegensatz zu damals habe ich heute ein Handy und muss nicht mehr ganz so oft tun, als müsste alle Kraft aus dem Inneren kommen.
30.10.2019
Eine sächsische Hausfrau steht nur mit zwei Patronengürteln bekleidet und Tarnfarbe im Gesicht in einem Greenscreen-Regenwald. In ihren Händen balanciert sie eine zwei Liter Colaflasche und eine Softair Maschinengewehr. Sie erzählt von den Fettflecken, die ihre Tochter und deren Freundin auf den Rücksitzen auf dem Weg zum Kino hinterlassen haben. Ihr Mann weigert sich bisher, die Bezüge anzubringen, dabei würde sie mit den künstlichen Fingernägeln bestimmt mindestens doppelt so lang brauchen. Zustimmung aus dem Chat. Ein paar Tabs weiter läuft ein vergessenes Ambientset und macht aus der Anordnung Kunst.