Jahr: 2019

03.11.2019

Ich muss 3000 Kilo Second Hand Koks in Wärmflaschen über die Grenze schmuggeln. Wenn der Grenzbeamte (BREXIT!) fragt, wofür ich die ganzen Wärmflaschen brauche, zeige ich ihm ein Bild meiner Katze und erzähle ihm vom kalkhaltigen Wasser in Berlin. Die Wärmflaschen gab es im Angebot und ich glaube nicht an Plastikverpackungen. Glas oder Metal wäre zu schwer. Er nickt verständnisvoll und reicht mir einen Tee.

02.11.2019

Müde Wut ist die Wut, in die ich mich hineinsteigere, wenn ich an meinen eigenen Ansprüchen scheitere; wenn ich mir keine Langeweile oder Müdigkeit erlaube, aber es trotzdem nicht schaffe mich aufzuraffen, um zu Schaffen; wenn die echten und eingebildeten Zwänge wegfallen und nur noch die eigenen Erwartungen übrig bleiben. Der eigentliche Tag zählt nicht. Wie ein Traum, der nach dem Aufwachen schon vergessen ist. Es gilt nur die Liste im Kopf. Egal wie schön oder produktiv oder warum Dinge verschoben oder weggelassen wurden. Du solltest und hast nicht. Und überhaupt. So beginnt der Abstieg.

Darum das Gegenprogramm: Liebes Tagebuch, heute habe ich in der Bibliothek spannende Texte zu einem Thema gelesen, über das ich heute gleich zweimal mit Menschen reden durfte, die ich sehr gerne habe und die mich inspirieren. Einen davon habe ich schon länger nicht mehr gesehen, was besonders schön war. Aus guter Laune habe ich dann mein Erspartes in Baklava und Gin verprasst. Aber bevor ich das anrühre, muss ich erst mal noch etwas mit dem Händen machen, um vom Kopf wieder in den Körper zu rutschen. Für die anderen kochen zum Beispiel. Ich verzeihe dir, dein F.

01.11.2019

Körper → Kamera + Bildschirm → Körper
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Körper → Mikrofon + Lautsprecher/Kopfhörer → Körper

UND

Zimmerausschnitt + Zimmerausschnitt
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Raumklang + Raumklang

ABER

Live Broadcast
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Live Recording

 

 

 

 

 

 

 

 

31.10.2019

Drei Überwindungen, etwa so groß wie ein mittleres Hochgebirge mit abschmelzenden Gletschern, bei vergleichbaren Außentemperaturen trotz Sonnenschein:

1. Schreibend um Hilfe fragen.

Das Schwierige ist sprachlich die richtige Mischung aus Coolness und Dringlichkeit zu treffen. Es muss locker klingen (eigentlich brauche ich ja keine Hilfe), aber trotzdem bemüht (bitte warte mit deiner Antwort nicht zu lange). Dazu zur Auflockerung noch ein paar selbst abwertende Scherze, mit denen die Peinlichkeit einfach auf die Metaebene gehoben wird und am Schluss noch ein paar Emojis. Der Affe, der sich die Augen zuhält, und ein breites Lachen. Namen austauschen und zur Sicherheit an zwei Personen schicken.

2. Anrufen.

Nummer suchen. Tee kochen. Fragen aufschreiben. Auf Klo gehen. Prüfungsordnung erneut durchlesen und anstreichen. Fragen kontrollieren. Durch Twitter scrollen. Nochmal die Nummer suchen. Handy auf den Tisch legen. YouTube öffnen. [] Verhaspeln. Abhaken. Auflegen. Menschen umarmen.

3. Doch noch die Turnhalle betreten.

Ich saß mal im Umkleideraum der Sporthalle meiner Grundschule, vielleicht am Beginn eines neuen Schuljahrs, oder beim Probetraining einer Sportart, die ich ausprobieren sollte. Ich weiß nicht, ob ich zu spät war, es sich einfach so ergab, oder ob ich es drauf angelegt hatte, aber ich weiß noch wie ich als letzter in der Umkleidekabine saß und es nicht mehr geschafft habe die Halle zu betreten. Der neue, der die Klasse betritt, braucht nur ein paar Schritte bis zu einem Tisch, aber so eine Sporthalle ist riesig. Besonders für einen kleinen unsportlichen Jungen. Je länger ich wartete, desto unmöglicher wurde es mir die Halle zu betreten. Am erschöpften Ende der Verzweiflung entschloss ich mich dazu, so zu tun, als ob ich eingeschlafen wäre. Weil niemand kam, um nach mir zu sehen, waren es andere Kinder, die mich so fanden, und ich meine mich zu erinnern, dass sie die Ausrede zwar nicht besonders glaubwürdig fanden, aber dann auch schnell wieder vergessen hatten.

Diese Umkleiden haben nichts miteinander zu tun. Ich erinnere mich an dunkle Fliesen und an Bänke aus Metal und Holz. Im Sportzentrum der Uni gibt es keine Fenster, aber alles ist trotzdem heller, die Bänke sind aus Kunststoff und es riecht nach Duschgel. Ich habe keinen Grund zu warten. Ich könnte einfach wieder nach Hause fahren und es würde niemanden interessieren. Trotzdem sitze ich da und starre die Wand an und überlege, wie sich diese Bänke wohl am Hinterkopf anfühlen. Aber im Gegensatz zu damals habe ich heute ein Handy und muss nicht mehr ganz so oft tun, als müsste alle Kraft aus dem Inneren kommen.

30.10.2019

Eine sächsische Hausfrau steht nur mit zwei Patronengürteln bekleidet und Tarnfarbe im Gesicht in einem Greenscreen-Regenwald. In ihren Händen balanciert sie eine zwei Liter Colaflasche und eine Softair Maschinengewehr. Sie erzählt von den Fettflecken, die ihre Tochter und deren Freundin auf den Rücksitzen auf dem Weg zum Kino hinterlassen haben. Ihr Mann weigert sich bisher, die Bezüge anzubringen, dabei würde sie mit den künstlichen Fingernägeln bestimmt mindestens doppelt so lang brauchen. Zustimmung aus dem Chat. Ein paar Tabs weiter läuft ein vergessenes Ambientset und macht aus der Anordnung Kunst.

29.10.2019

Müde aber keine Lust zu Schlafen. Da teilt sich das Meer.

28.10.2019

Ein Let‘s Player beginnt während seines Minecraft Großprojekts vom Tag zu erzählen. Ein Camgirl wartet auf die Aktivierung ihres ferngesteuerten Vibrators durch Spenden und kommentiert einen neuen Kinofilm. Ein Streamer beantwortet zwischen zwei Runden Fortnite Fragen aus dem Chat. Und: Zwei weiße alte Männer unterhalten sich und veröffentlichen es als Podcast.

Beim fernmündlichen Starren ins Lagerfeuer fängt immer irgendwann jemand an zu erzählen. Weil Schweigen seltsam wäre und weil eine Community zusammengehalten, Spenden gesammelt, oder ein Gespräch am Laufen gehalten werden muss. Live und sichtbar das Publikum ansprechend, wie Streamer:innen, oder unsichtbar und in der Liveness einer durchgängigen Aufnahme mit mehr oder weniger mitgesprochener Öffentlichkeit, wie beim Laberpodcast. Die Spannung von (leiblich atmosphärischer) Nähe/Intimität und (körperlich sozialer) Distanz/Öffentlichkeit ist zu groß.